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rabbiner R. Chaim Cohn Rapaport, der, wie üblich, eine Dissertation über eine schwierige Halacha vortrug. Der Wanderer saß unten, hörte zu, kaute ruhig an seinem Gansflügel und murmelte dabei: „Schtusim, Schtusim" (Unsinn). Der bedienende Server hörte das und sagte dem Rabbiner, da unten sitzt ein Aurach (Bettler) und sagt: Schtusim. Der Rabbiner als Kohen leicht erregbar, wandte nun die Talmudstelle an: Midi chozif kullo hai, schmah minè mamser have, wenn er so keck ist, so muß er ein Bastard sein, worauf Jener schlagfertig erwiderte: Mamser talmid chochom kaudem lekohen godaul amhoorez, ein gelehrter Bastard hat den Vorrang vor einem unwissenden Oberpriester. Der Rabbiner rief ihn nun vor, und R. Löb wies ihm mit Leichtigkeit nach, daß er ein Tossefoth übersehen hatte, wodurch der ganze Pilpul gegenstandslos war. An seiner Behandlung des Themas erkannte er nun sofort den Schaagas Arje. Schließlich verhalf er ihm zu der vakanten Rabbinerstelle in Metz mit einem damals unverhältniß- mäßig hohen Gehalte von 1000 Thalern. Auch dort hatte der berühmte Mann mit der Unbotmüßigkeit reicher und ungebildeter Kultusvorsteher zu kämpfen. Denn als er den Minhag, das Akdomusgebet am Wochefeste nach dem Segensspruch über die Thora vorzutragen, als gesetzwidrig ändern und das Akdomus vor der Brochoh vortragen lassen wollte, wäre er beinahe wieder davongejagt worden. Er blieb seither der Synagoge das ganze Jahr fern, bis auf 4 Tage im Jahre. Im Alter von 87 Jahren empfing er an der Spitze der Gemeinde den damaligen Dauphin von Frankreich, den späteren König Louis XVIII, auf den seine Erscheinung einen überwältigenden Eindruck machte, so daß er ihn um seinen Segen bat, der auch die Revolution und das Kaiserreich überdauert hat. So stand es um die Autorität der wahrhaft Großen in Polen; man kann sich vorstellen, wie die anderen dabei wegkamen.
Auch in Wilna wurde das Rabbinat abgeschafft. Der Rabbiner R. Samuel, dessen Frau nach Methode der „Rebbezins" die städtischen Angelegenheiten beeinflussen wollte, und dem man vorwarf, daß er nicht, wie alle Baalebatim (Gemeindemitglieder) die ganze Nacht beim Studium zubrachte, wurde seines Amtes entsetzt und dieses aufgehoben. Man gruppirte sich um den jungen Privatmann R. Elia als freiwilliges Oberhaupt, und da man den Titel „Raw" abgeschafft hatte, nannte man ihn Gaon, eine Ehrenbezeugung, die unter den damals bereits üblichen, überschwänglichen Titulatoren auch des mindesten Gelehrten üblich war.
So gerieth eine altehrwürdige Institution in's Schwanken, ohne daß man wußte, wodurch dieselbe, ohne förmliche Anarchie in der Leitung des Judenthums hervorzurufen, zu ersetzen sei.
In einer sehr weisen und weitreichenden Voraussicht hat hier der Chaßidismus mit einer neuen, weit festeren Organisation eingegriffen.
5. Der Dajan und 6. der Melammed.
Da diese beiden Institutionen meist in einer Hand vereinigt waren, der Dajan wenigstens seine kümmerliche Existenz als Lehrer ergänzen mußte, so soll hier das Talmudstudium überhaupt und die jüdische Wissenschaft jener Zeit besprochen und der Vorwurf der Talmudfeindlichkeit, den man dem Chaßidismus gemacht hat, widerlegt werden.
Dieser Vorwurf ist übrigens leicht zu entkräften. Drei der hervorragendsten Schüler des Balschem waren anerkannte Größen auf dem Felde des Talmuds: sein Schwager und späterer Schüler, der bereits Eingangs erwähnte R. Gerschon Kitower, der Rabbiner von Polenoie R. Jacob Josef, der, wie sein Werk Toldot Jacob Josef zeigt, die ganze hebräische Literatur in ihrer Tiefe und Breite beherrschte, und der Rabbiner von Meseritsch R. Dowber Friedmann, der eigent-