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und dessen Gewicht die geistige Anlage bedingt. Eingehende Studien haben erwiesen, daß dies nicht der Fall ist, daß vielmehr die Windungen des Gehirns die geistige Energie bedingen. Diesen Windungen paßt sich der Gedankengang des Talmuds aus merkwürdige Weise an. Ein chinesischer Mandarin, der seine 3000jährige Schreibkunst für die höchste Potenz der Bildung hält, wird den deutschen Lehrer, der im beschränkten Gartenraume mit den Schülern Uebungs- märsche vornimmt, wobei sie sich alle paar Schritte blitzartig auf den Hacken umwenden, für einen Barbaren halten. Ganz dieselbe Taktik befolgt der Talmudlehrer im blitzartigen Wechsel von These und Antithese, die keine Gedankenfaulheit aufkommen läßt. Die Phantasie des Kindes wird in den Hintergrund gedrängt und nicht mit Thieren, Bäumen, Mythologien und Mordgeschichten ausgefüllt oder mit leerem Gedächtnißkram. Der Advokat, den man um das Datum der Schlacht von Marathon befragt, wird Mühe haben, sich durch den Wust von Bilderkammern bis zu dem Gehirntäfelchen durchzuarbeiten, auf welchem dasselbe verzeichnet war, und trotz aller Botanik wird er einen Rettich von einer Rübe nicht zu unterscheiden wissen. Im Cheder wird die Phantasie nur für die vergleichende Gedankenthätigkeit herbeigezogen, um die einzelnen Felder des Gedankengewebes mit einander zu verbinden. Die Gedächtnißkraft wird dabei auf das Erstaunlichste gestärkt, als Wiederholung subjektiver Gedankenthätigkeit, nicht fremder Bildobjekte. — Ein 12jährigcr Knabe (z. B. Glück aus Suwalki) rezitirt 4 große Talmudfolianten aus dem Gedächtnisse. Man zeigt ihm mit dem Bleistift eine Stelle auf dem Titelblatte und verlangt von ihm die Angabe des Wortes, das an dieser Stelle auf pag. 80 steht, mit sicherstem Erfolge. Aber was beinahe unheimlich wirkt, das ist die Sicherheit mit welcher er den ganzen Folianten von rückwärts, vom letzten Worte bis zum ersten rezitirt, mit einer geradezu verwirrenden Schnelligkeit. Man probire nur einen Satz des Aschre-Gebetes (Ps. 145), daß doch selbst jeder Rabbiner des Westens auswendig kennt, von rückwärts nach vorne zu rezitiren: Seloh jehallelucho aud, bessecho jauschwe aschre. Bei den sogenannten Schaß- (O"lst) Pollacken erstreckt sich diese Fertigkeit auf den ganzen Talmud und noch weiter, und nur durch diese Fertigkeit war es dem berühmten Rabbinowitz möglich, in München die verschiedenen Varianten der Talmudausgaben in seinem berühmten Werke zusammenzustellen. Der berühmte R. Natan Spira (Megalleh Amukot) aus Krakau (um 1600) wurde auf Verlangen des Wojewoden als läjähriger Jüngling diesem, von seinem Schwiegervater vorgestellt. Er hatte von seinem merkwürdigen Gedächtniß vernommen und las ihm ein französisches Buch zum Rezitiren vor. Der junge Mann lehnte den Kopf auf den Arm. Inmitten des Vorlesens frug der Wojewode den Alten: spi (schläft er?), was derselbe kopfschüttelnd verneinte. Er las das Buch zu Ende, und obwohl Spira kein Wort Französisch lesen konnte, rezitirte er Wort für Wort auswendig und auch das spi an der Stelle, wo es eingeschaltet worden war. Der Magiah (N^vs), Korrektor der Thora-Rolle, kennt nicht nur jeden Buchstaben auswendig, sondern sagt in ganz Tenach, wenn ich ihm die Vokale sage, die zu einem Verse gehören, sofort den Satz. So fragte ich so ein kleines Männchen, einen armen Schlucker: Was ist Komez Chirek Komez Sch'wo etc. und er antwortete, ohne einen Augenblick nachzudenken,
Er hatte also im Zeitraum von einigen Sekunden Auswahl zwischen 23 064 Bibelversen getroffen. Ein Beispiel von Gedankenflucht und ein Beitrag zu der neuesten psychologischen Erkenntniß der psychischen Feinheit des Gedächtnißstoffes! Diese Fähigkeiten finden sich aber nicht nur im äußersten Norden, sondern wie Ibn Safir berichtet, auch im äußersten Süden