24
besprochenen Fälle herbeigezogen, gesichtet und widerlegt werden mußten, um dann von einem Gegner durch neue Beweisführung ad asumrdum geführt zu werden. Vergebens eiferte schon der berühmte R. Samuel Edels gegen diese Ausschreitungen des Pilpul. Dieselben nahmen, von dem Ehrgeiz des formten Lernens getrieben, immer mehr überhand und pflanzten sich in das früheste Cheder fort. Der Drill begann schon mit dem unreifsten Jugendalter. So erstaunliche Resultate in Einzelfällen dabei erzielt wurden, so verderblich wirkte die einseitige Ver- schrobenheit auf die Massen. Die wunderbare jüdische Ethik, der „Mussor" (Moral), wurde als alter Weiberkram ganz über Bord geworfen. Das
Studium der heiligen Schrift war schon lange vernachlässigt, so daß man bei Autoritäten selten einen Vers in richtiger Fassung zitirt findet. Die Ueber- setzung, welche den Kindern gelehrt wurde, war seit längerer Zeit die in jüdisch- deutsche Lettern übertragene Luther'sche. Dieser Erzfeind des Judenthums war den Alten, durch den Umsturz, den er angerichtet hatte, der eigentlich ein Sieg des Talmud (Ulrich von Hutten epistolae virorum obscurorum und Reuchlin, war, sympathisch genug, um seine Uebersetzung einschmuggeln zu lassen. An komischen Intermezzi fehlte es dabei nicht. Der polnische Melammed wußte mit dem althochdeutschen Jargon wenig anzufangen. Wenn Jener übersetzt (1. B. M. 7,23): Er vernichtete alle Kreatur, las der Melammed: Er
vernichtete alle Kratteier, und wenn der Junge nach der Provenienz dieser Eier fragte, bekam er's mit dem Pfeifenrohr, so daß er sich den Sinn, so gut es ging, nach dem Hebräischen zurechtlegen mußte. Der erste „Daatsch" in Lemberg war ein gewisser Cohn, der fromm und ein tüchtiger Sprachkenner war. Zu ihm schickte man die Kinder Sabbaths zum Verhör. In P. übersetzte ein
Kind ßtzL' (der Pelikan) mit: Der meschuggener Fisch. Er ließ den
Melammed rufen, und es entspann sich folgender Dialog: „Warum ist
der meschuggener Fisch?" Melammed: „Der Targum macht XM'PL' =
nu n a i st Fisch, s chalai ist (auf polnisch) meschugge". (Uebrigens ein philologischer Kunstgriff, um den ihn Ewald und Gesenius beneiden müßten.) Cohn: Wenn er is a Fisch, wie kommt er herein zwischen die unreinen Vogelarten? Melammed: Ueberdem weil er is take meschugge.
Solche vereinzelte Mißgriffe gaben den Feinden des Cheder Waffen in die Hand, um es, wie im Westen die Reform, von Grund auf zu zerstören und die heiligste Grundlage religiösen Lebens zu tödten, anstatt die Fehler zu beseitigen. Aber nicht nur die Schrift, der wunderbare Midrasch und die großartige rab- binische Agada wurden gründlich vernachlässigt. Es gab durch ihren Scharfsinn berühmte Gelehrte, die ihr Leben lang sich nur mit einem einzigen Traktate z. B. Baba Mezia beschäftigten und auch da ihre ornamentale Kunst nur einer Abhandlung widmeten, alles andere vollständig vernachlässigten. Die Ursachen dieses Nebels lagen viel tiefer, auf ganz anderem Felde und waren keineswegs freiwillig gewählt. Die Alten, vor allen der Remo (R. Mose Isserles) hatten die ganze rabbinische Literatur in ihren Kreis gezogen. So wie er mit unerhörter Kühnheit an den Anfang seines Schulchan Aruch- Kommentars eine Sentenz aus dem More Nebuchim als Grundlage alles religiösen Thuns gestellt hatte, so zog er zum geistigen Genusse alle Scholastiker der spanischen Schule, sogar den extravaganten „Ralbag" (Gersonides) herbei, gleichzeitig aber auch die Kabbala. Eine Vereinigung der extremsten Gegensätze unter dem Baume des Talmud die besonders groß veranlagten Geistern seines Ranges, oder aber naiven, unempfindlichen Naturen möglich war. Sobald aber die rücksichtslose, alles zersetzende pilpulistische Kritik sich auf dieses stürmische