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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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ihr nicht gestärkt, das Kranke nicht geheilt, das Gebrochene nicht verbunden, das Verstoßene nicht zurückgebracht, das Verlorene nicht gesucht, und mit Gewalt sie gezüchtigt und mit Strenge. So zerstoben sie ohne Hirten, sielen allen Raub- thieren zur Beute und zerstreuten sich." Ein von Gott gesandter Hirte, eine jener seltenen Erscheinungen, die einmal in einem Jahrtausend auftauchen und die Macht ihrer Individualität ganzen Völkern und Generationen aufprägen, war R. Israel Balschemtow.

Auch er zog sich aus dem Gewühle der Massen in die Einsamkeit zurück, aber nicht in die Einsamkeit der Studirstube, sondern in die wilde, freie Natur, um zuerst mit sich allein zu sein, seinen Körper, seine Gefühle, seine Gedanken beherrschen zu lernen, bevor er eine Herrschaft über die Massen antrat. In einem Zeitalter, in welchem die Furcht auch die unerschrockensten Geister niederdrückte, da man jeden Augenblick gefaßt sein mußte, von seiner barbarischen Umgebung, von blutdürstigen Feinden unter irgend einem Vorwände zum Richtplatz geschleppt, gerädert, geviertheilt oder lebendig verbrannt zu werden, wie es die blutrünstige Maffia, die zu jener Zeit nach durchgeführter Gegenreformation in Polen herrschte, so herrlich zu insceniren verstand, zu einer Zeit, in welcher das Leben ein wirkliches Jammerthal war, mit allen Leiden, wie sie in der biblischen Strafrede (nndlld) vorausgesagt sind, wo die Frommen nichts anderes zu thun hatten, als durch ertödtende Kasteiungen sich auf das Jenseits vorzubereiten, um der Hölle zu entgehen, in einer Zeit, wo eine Gespensterfurcht herrschte, die den nervösen, hypochondrischen Stubenhocker am hellen Tage in Angst versetzte, waren Furcht und Trübsinn die Erzeuger der Frömmigkeit geworden, jeder Froh­sinn aus den Gemüthern gewichen, der Lebensquell des jüdischen Volkscharakters untergraben. Einer der ältesten Antisemiten, der Heide Tacitus, macht den Juden ihre Furchtlosigkeit, ihre Liebe zum Leben zum Vorwurf, Hinc generandi amor haec moriendi contemptus.Daher (aus ihrem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und einem mente sola, nur im Geiste, faßbaren Gott) stammt ihre Liebe zur Vermehrung, ihre Todesverachtung. Der finstere, nur auf Mord und Gold sinnende Römer verhöhnt ihre fröhlichen Feste und Tempel- gesänge. Vergebens hatte schon R. Isaak Lurja davor gewarnt, die Furcht zur Grundlage der Religiosität zu machen, und ein derartiges Gemüthsprodukt als Lüge, die an Götzendienst streift, stigmatisirt, vergebens darauf aufmerksam ge­macht, daß in derStrafrede" selbst als Grundübel und hauptsächlichster Straf­grund geltend gemacht wird: Weil Du dem Ewigen, Deinem Gott, nicht mit Freude und Frohsinn gedient hast. Die trübe, trostlose Atmosphäre des Mittelalters war nun einmal mit Angst und Trübsinn gesättigt. Das Licht des Thorastudiums, das die Herzen erfreut, konnte gegen diese dichte Finsterniß nicht aufkommen, die Blüthe echter, Geist und Gemüth durchdringender Religiosität in ihr nicht gedeihen. Die Furcht, welche die Thora fordert, ist eine ganz andere. Hasaponim rubon chassidim, sagt der Talmud,die Seeleute sind meistens fromm." Natürlich bezieht sich das auf die jüdischen Seeleute der damaligen Zeit, weil sie der beständigen Gefahr trotzen lernen und sich durch ihre Großartigkeit gehoben fühlen. Die Ueberwindung der Furcht hier schlägt die jüdische Ethik einen von der arischen grundverschiedenen Weg ein soll nämlich nicht in der Unempfänglichkeit, der Nervenlosigkeit, bestehen, im Gegentheil, wie dies in den verschiedensten Varianten von allen seinen Schülern betont wird, wie namentlich Keduschas Levy sagt: NIITIV NXN'2 MP21NN2 d12PN HX (en taanug kehisdabnut bejirah tehorah)es giebt kein größeres seelisches Vergnügen, als den Genuß der r einen Furcht." Sie ist das Mittel, die Seele über den Körper hinauf in die geistigen