Druckschrift 
Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
Entstehung
Seite
32
Einzelbild herunterladen

Temperament. Höher als bei diesen steht das Gebet, welches durch Vertiefung in den Gottesgedanken, Betrachtung Seiner Weltleitung, Gefühlserkenntniß und die durch dieselbe erzeugten Regungen von Liebe, Furcht, Schönheitsgefühl, Auf­opferung, Huldigung, Wonnegefühl und Unterwerfung gebildet wird. Bei alle­dem ist dieses Gebet doch nur ein durch Geistesthätigkeit produzirtes. Das wirk­liche Gebet fängt erst an, wenn auf den Menschen eine Furcht fällt, daß er nicht weiß, wo er ist, die ihm das Denkvermögen reinigt und ihm Thränen erpreßt. So lange er nicht dazu gekommen ist, ist er noch kein wirklicher Jude."

Das Berständniß für diese Lehren konnte einem Zeitalter nicht schwer­fallen, das sich in einer Lage befand, die nur mit dem furchtbaren Ernste blutiger Schlachten verglichen werden kann. Unsere moderne Kaffeehausatmosphäre bringt es höchstens zu einem Achselzucken darüber.

Die Einsamkeit des Beskid, in dessen Höhlen sich der junge R. Israel seine, noch heute erhaltenen Steinbänke und Tische zurichtete, die er verrammelt als Schlafstätte benützte, um von den Bären und Wölfen nicht überrascht zu werden, wie es etwa David im Gebirge Judaea und R. Simeon ben Jochai nach dem Zeugnisse des Talmud durch 13 Jahre in Meron gemacht haben mag, war die richtige Studirstube für seinen Geist. Es ist kein kleines Verdienst dieses Mannes, daß er die Gespensterfurcht, die in seinem Zeitalter eine so große Rolle gespielt hat, vollständig verscheucht hat. Man wird in keinem einzigen Werke der großen chaßidischen Literatur eine Spur von Spukgeschichten finden, von denen es vor dieser Periode in vielen Schriften wimmelt. Mit der Ueberwindung der unerlaubten, fremdartigen Furcht iN'st'tN NXIst geht die Ueberwindung der äußerlichen, gemeinen Liebe '2N N2NX Hand in Hand. Mit einem gesunden, fast athletischen Körper gesegnet, machte er sich von Speise, Trank und Schlaf so unab­hängig,als dies einem Menschen überhaupt möglich ist. Indem er aber diese Strenge für sich und solche Schüler übte, denen dieselbe keine größeren Lasten als ihm selbst, keine Beeinträchtigung des Körpers und eirre entsprechende Hebung des Geistes brachte, verbannte er die Askese gänzlich aus dem Bereiche der religiösen Hebungen, soweit sie nicht in den wenigen rituellen Fasttagen vorgeschrieben war. Er hat damit den kommenden Generationen eine wahre Wohlthat erwiesen. Das Fasten war trotz aller Warnungen des Talmuds für den damaligen Gelehrten und Frommen zu einer förmlichen Manie geworden. Eine Hafsakah (Unter­brechung) von 3 Tagen = 72 Stunden, ohne einen Tropfen Wasser und ohne die mindeste Speise, war noch ein kleines Kunststück, das sechstägige, von Samstag Abends bis Freitag Abends, garnichts Ungewöhnliches, begünstigt durch den Um­stand, daß man wenig zu essen hatte. Namentlich im Monate Elul ging das große Fasten los. Es gab robuste Naturen, die auch das gut vertrugen? So der Verfasser des Werkchens, R., Abraham Cohen Lasker

von dem der Danziger Rabbiner R. Israel Lipschütz erzählte, daß er nach vollendetem sechstägigen Fasten Freitag Abends zuerst ein bischen Ziegenmilch trank, um den brennenden Magen zu beruhigen, dafür aber am Samstag unge­wöhnlich viel. Aber dieser Gelehrte konnte es doch nicht dem Krakauer Bäcker Schije nachthun, der unter Aufsicht den ganzen Elul von Sabbath zu Sabbath fastete und bei Nacht seinen Dienst als Ofenschieber versah. Die Frauen wetteiferten mit den Männern in diesen frommen Hebungen. Dazu kam die ebenfalls durch den Balschem abgeschaffte Unsitte des Aderlassens, so daß ohne dieses weise Einschreiten eine gänzlich blutleere, dem Dahinwelken geweihte Generation geschaffen worden wäre.

Der Talmud selbst sagt: Eines Gelehrten, der im Fasten sitzt, Frühstück soll der Hund fressen. Denn nicht bloß der Körper, auch der Geist leidet darunter.