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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Aergerniß der Frommen. Der Unterschied zwischen beiden Sorten ist der, daß die Söhne und Enkel der Letzteren als Neologen, religionslose Aerzte und Advokaten, aus der Gemeinschaft Israel's ausscheiden, wahrend die der Ersteren trotz der Gegnerschaft ihrer Eltern ihre Zuflucht bei den Chaßidim suchen.

7. Der Chasan, Vorbeter, Cantor. 8. Der Klesmer, Musikant.

Der älteste Schüler des Balschemtow, R. Jakob Josef von Pollenoji, schildert in seinem Werke Toldoth, Parsch, Zaw, die Kantoren seiner Zeit in folgenden Worten:Und so verhält es sich mit den Vorbetern der Gemeinden. Es hat sich der Uebelstand verbreitet, daß dieselben in allen schönen und frommen Gemeinden zur Störung der Andacht verleiten, indem das Volk, während sie ihre Melodien auspacken, sich in Gespräche einläßt, das Gebet unterbricht, wodurch sie über sich, und die Anderen mancherlei Ungemach heraufbeschwören. Woher diese Sitte stammt? Ich habe gehört, daß der Ursprung ein sehr lobenswerther war. Denn als Vorbeter war ursprünglich der Angesehenste der Gemeinde ausersehen (vergl. Schulchan Aruch § 53.) Es waren also Leute, welche die überlieferten tiefen Bedeutungen (Kawonot) kannten. Deshalb führten sie Nigunim ein, welche ihnen Zeit ließen, bei jedem Worte die dazu gehörigen Bedeutungen in Gedanken auszusprechen, auch für jeden Theil des Gebetes entsprechende Melodien auf- zustellen. Damit steht unsre alte Ueberlieferung in Einklang, daß man an den Melodien der hohen Festtage (Jomim nauroim) keine Aenderungen vornehmen soll, denn dieselben stehen im engsten Zusammenhänge mit dem tiefen Sinn der Gebete. Mit der Zeit, als der Verfall eintrat, ging der tiefe Sinn der Andacht verloren. Es blieb die bloße Melodie, und der Vorbeter sank zum bloßen Sänger herab, der die Andacht in Sünde für sich und die Gemeinde umwandelt. Wehe über die Schande! Wie kann so Einer die Keckheit besitzen, sich als von der Gemeinde gesandter Fürsprecher und Vermittler zwischen Israel und unserem himmlischen Vater hinzustellen vor den großen und furchtbaren König, den Urquell und die Wurzel aller Welten! Diese Vorbeter betreiben ihr Amt als einfaches Gewerbe, als Krippe, die das Futter für den Esel enthält, ohne wie dieser zu wissen, daß nicht die Krippe ihn füttert, sondern der Herr, der die­selbe füllt."

Diese Kritik ist im Vergleiche zu dem, was der fromme Verfasser des Kaw hajaschar und Frühere über die Chasonim geschrieben, sanftmüthig und zurückhaltend. Der Wormser Rabbiner R. Jair Bachrach erzählt in den Responsen Chawwot Jair haarsträubende Dinge von littauischen Kantoren und ihren vagabundirenden Meschorrerim (Chorsängern). Fahrendes Gesindel, das mit großer musikalischer Begabung die ganze Leichtfertigkeit und Sitten- losigkeit des wandernden Schauspielers und Sängers vereinigte, die in den reichen, freigebigen und von der französischen Sittenlosigkeit der kleinen Höfe angesteckten deutschen Gemeinden einen üppigen Nährboden fand.

Durch diese Klasse wurde das Bethaus, die Stätte der Andacht, zu einem Schauspielhause herabgewürdigt, und da das Judenthum keine Entwürdigung duldet und die entheiligten Räume flieht, so nahm in naturgemäßer Folge, wie die Füchse den verödeten Berg Zion besetzten, eine neue, halbjüdische Sekte dieselben in Besitz und schuf eine Neuauflage der alten Baalstempel mit fremdartigem Dienste und Weiberchören.

Der Chassidismus hat das Uebel mit der Wurzel ausgeschnitten, die Chasonim sammt den Meschorrerim davongejagt und die alte Wahlordnung des Andächtigsten als Vorbeter wieder hergestellt.