Druckschrift 
Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
Entstehung
Seite
35
Einzelbild herunterladen

38

Die Pietät gegen die altüberlieferte Liturgie hat dabei keineswegs gelitten. Wir wollen hier dieselbe gegen eine neuentstandene Verhöhnung in Schutz nehmen,

die erst unlängst ein sogenannter Professor (was heutzutage nicht Alles unter diesem Namen kreucht und fleucht) der Musik vom Stapel gelassen hat. Dieser 15/16stel-Renegat hat es für gut befunden, die Kolnidre-Melodie und die ihr ver­wandten Melodien der hohen Festtage als ein blutjunges Produkt der Zigeuner- musik zu erklären. Um den Blödsinn kritisch zu belegen, hat er als Beweis die Liturgie der italienischen Juden angeführt, welche diese Melodien nicht kennt.

Mit demselben Rechte könnte man das Verbot des Schweinefleisches als eine Erfindung polnischer Juden nachweisen, da von den 20 000 über Italien zerstreuten Juden, die ihr, vom religiösen Standpunkte so kümmerliches Dasein auf der apenninischen Halbinsel fristen, wohl kaum zehn eine Ahnung von diesem Verbote haben. Aber, selbst wenn die italienische Liturgie vor einem Jahrhundert keine Berührungspunkte mit der aschkenasisch-polnischen aufgewiesen haben würde, so wäre das nur dem Umstande zuzuschreiben, daß die in so vielen Riten ab­weichende, italienische ihren Ursprung aus die urälteste Einwanderung seit Titus zurückführt und mit jüdischem Konservatismus sich gegen das Ausland hartnäckig abgeschlossen hielt. Der Mann mit seiner Kantorenweisheit kennt aber die Geschichte seines Faches ganz und gar nicht. Ein ungarischer Musikkenner, der vor einiger Zeit in der N. Fr. Pr. ein Feuilleton über Franz Liszt geschrieben hat, übrigens unverfälschter Arier, kam darin auf die Zigeunermusik zu sprechen, wies nach, daß dieselbe vor 90 Jahren überhaupt noch nicht existirte und ihre Entstehung dem jüdischen Klesmer (Musikanten) verdankt, den Bambéry über ganz Asien bis an die Ufer des Ganges verbreitet fand. Freilich hätten die Schüler ihre Lehrmeister übertreffen gelernt. Daß der Haß gegen alles Jüdische diese Pseudosemiten nicht nur blind, sondern auch taub macht und sie veranlaßt, auch die letzten Fäden der Pietät gegen die Alten zu zerreißen, so dünn dieselben auch sein mögen, beweist ein Urtheil, das der arische Professor Engel vom Berliner Konservatorium gefällt hat. Derselbe ließ sich von dem heute in der Synagoge in Paris in der Rue Cadet fungirenden Kantor, Herrn Spanien, mit der jüdischen Liturgie bekannt machen. Dieser sang ihm den Anfang des Morgengebetes von Roschhaschanah vor: Brochaus wehaudoaus leschimcho hagodaul, und er schilderte den Enthusiasmus, mit welchem dieser berufene Tonkünstler die Ein­drücke auf sich wirken ließ.So etwas besitzen Sie? Da muß ja Alles zusammen­fallen, wenn das richtig gesungen wird." Das ist das Urtheil des reinen, unbe­fangenen Kunstkenners. Die Eulen, die in den alten Ruinen ihr Gekrächze ertönen lassen, finden die Melodien der Nachtigall durchaus unmusikalisch und rufen den deutschen Hahn als Schiedsrichter an. Schon Meyerbeer hat vor bald eimm Jahrhundert sich höchst abfällig über die Tendenz ausgesprochen, unsere uralten, erhabenen Melodien zu veropern und dieses Beginnen als eine Verun­staltung erklärt. Woher stammt die nachweisbar seit Jahrhunderten über ganz Mitteleuropa vom äußersten Westen bis in den entferntesten Osten eingeführte, strengstens einheitliche Liturgie? Die alte Tradition nennt uns ebenso einstimmig den Maharil, Rabbiner und berühmten Vorbeter zu Nürnberg, gestorben 1427, als den Vater derselben. Nur einer solchen Autorität, welche anerkanntes Ober- haupt der aschkenasischen Judenheit war, zu einer Zeit, wo es in Frankreich keine Juden mehr, in Polen noch keine gehörig organisirten Juden gab, konnte es gelingen, eine allgemein giltige Liturgie festzustellen.

Dieselbe Tradition bestreitet aber auch, daß der Maharil der alleinige Erfinder und Tonsetzer derselben gewesen sei, vindizirt derselben vielmehr ein weit höheres Alter. Auch diese Ueberlieferung hat sehr viel für sich. Denn erstens