Druckschrift 
Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
Entstehung
Seite
36
Einzelbild herunterladen

36

ist von einem eigenthümlichen, besonders hervorragenden musikalischen Genie dieses durch seine Heiligkeit berühmten Mannes nichts bekannt, wie es nöthig gewesen wäre, um eine so außerordentlich eindrucksvolle, das ganze religiöse Wesen des jüdischen Gebetes beeinflussende Musik zu schaffen; zweitens hat dieselbe einen, dem deutschen durchaus fremden Charakter, und drittens war das Deutschland des Mittelalters der denkbar ungünstigste Boden für Musik. Der deutsche Jude hat durch sein hölzernes, unmusikalisches Organ, durch seine Vor­tragsweise, die an das Krähen eines Hahnes erinnert, von jeher den Spott des Oestlers herausgesordert, auch stets bereitwilligst dessen musikalische Ueber- legenheit anerkannt.

Es bleibt demnach die Frage über den Ursprung des Melodienschatzes des Leviten Maharil offen. Wir brauchen jedoch nur einen Blick in die jüdische Urgeschichte zu thun, um die großartige Stellung, welche die Musik in der jüdischen Volksseele einnimmt, als einen ihrer mannigfachen Schätze herauszufinden.

Das Universum ist dem jüdischen Seher ein einziger Bau musikalischer Harmonien (Ps. 19.)Die Himmel erzählen die Ehre Gottes. Das Firmament spricht von Seiner Hände Werken. Ein Tag läßt dem andern seinen Spruch zu- fließen, eine Nacht erzählt der anderen ihre Erkenntniß. Nicht in Lauten, nicht in Worten, nicht in hörbaren Tönen. Ihr Strahl geht über das ganze Erdall, und am Ende der Welt ertönen ihre Worte, in dem die Sonne ihr Gezelt aufge­schlagen." Die Identität von Licht und Ton hat Israel schon am Sinai erkannt: Und das ganze Volk sah die Töne," wie der Talmud sagt: PQL'IN NX ll'XII (roim ess hanischma) sie sahen das Hörbare. Der unvergleichliche Kalonymide, R. Josef bar Kalonymos, dessen Autorschaft des irrthümlich dem Rabed zuge- schriebenen Kommentars zu Sefer Jezirah ich nachgewiesen habe, sagt in der Einleitung mit Bezug auf Jes. 24,16:Von dem Flügel der Erde, Gesänge

vernehmen wir, Huld dem Zaddik, d. h. eigentlich: dem Manne des harmonischen Gleichgewichts. Wisse, daß die Erde Flügel hat, mit denen sie sich nach allen sechs Richtungen im Gesänge bewegt." Ebenso finden wir in Job 36,10:Mein Schöpfer, der die Gesänge der Nacht ertönen läßt." Ferner 38,7:Wenn die Sterne des Morgens zusammen singen und alle Engelschöre jubeln." Sodann 38,37:Wer zählt die Himmelssphären kunstgerecht und legt die Schalmeien der Himmel zurecht?" So überseht es mit ebenso tiefem als richtigem Verständniß der Kalonymide. Er führt aber auch gleichzeitig das Wesen der Musik auf die Harmonie der Zahlen und die der damit korrespoudirenden der Nervenbahnen zurück, das Tiefste, was Leibnitz und die Neueren darüber gesagt haben. Indern er sich ferner als Schüler des Maimonides zu erkennen giebt, sagt er zu P. 1, Mischna 10: Demgemäß entstehen die Buchstaben in den Nervenbahnen mit melodischer Tonentwickelung. Das ist das Geheimniß der Noten der Thora, NölN ^>'12 (Taame thora), weil sie ein- und ausgehen mit Tönen der Musik. Darnit kannst Du begreifen, was man unter Prophetengeist versteht, der aus dem Wege der Melodie über die Propheten kommt, wie es bei Elischa heißt: "Und jetzt nehmet nur einen Sänger, und es war als der Sänger spielte, da überkam ihn göttlicher Geist." Weil dieser Geist, aus der obersten Willenssphäre durch die lange Nervenbahn (Sympathicus) zum ästhetischen Gefühl herab­gelangt, Schönheitssinn und Geist genannt wird. Diese Buchstaben sind die Nervenbahnen selbst. Ohne an dieser Stelle nochmals auf sein großartiges Svstem einzugehen, bietet er uns ein Bindeglied zwischen der altjüdischen Ton­lehre und der Kunst des um 150 Jahre später auftretenden Maharil. Wir finden beim zweiten Tempel eine ausgedehnte Verwendung der Musik. Der griesgrämige, mordlustige Römer, der Antisemit Tazitus, kann es den Juden nicht verzeihen,