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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Sephardim. Der Chaßidismus hatte ganz andere Beweggründe. Erstens hatte die Elite der jüdischen Gelehrtenwelt das Gebetbuch des Ari (R. Isaak Luria) zu ihrem Lieblingsstudium erwählt, wie wir demselben bei den bedeutendsten Deci- soren jener Zeit, den Säulen des Schulchan Aruch, dem Bach (R. Joel Sirkes). Magen Abraham (R. Abraham Gombiner), Ture Sahaw (R. David b. Samuel halevi), und ihren Schülern auf Schritt und Tritt begegnen. Haß und Unwissen­heit mögen über Kabbala urtheilen, wie sie wollen. Die Weisheit des Ari ver­hält sich zu der scholastischen Philosophie und Homiletik ungefähr wie die moderne Chemie zu der mittelalterlichen Alchymie. Die ungeahnten Tiefen des Geistes und Gemüthes, in welchen die Bedeutung der Gebete erschien, fesselten alle hervor­ragenden, frommen Geister, und da der Ari ausschließlich für den sephardischen Ritus geschrieben, so hatte derselbe den alten Ritus in maßgebenden Kreisen bereits stillschweigend verdrängt. Jener hatte auch den Vorzug, daß er in Palästina, dem Centrum des Judenthums, üblich war. Uebrigens sind die Differenzen zwischen demselben und dem aschkenasischen nicht gerade bedeutend. Daß man im Kaddischgebete nach dem neunten Worte die Formel einschaltet: wejazmach purkone wijkarew meschicheh, ein Gebet um die Beschleunigung der Erlösung, daß man ferner in der Kaduschah des Mussafgebetes am SabbathKesser (">N2 sagt,"' das heißt:Die Krone geben Dir die Engel, die Myriaden der Höhe, zu­sammen mit Deinem Volke Israel, den Versammelten der niederen Erde," während der aschkenasische (süddeutsche) Ritus hier die von den Sephardim für die Wochen- keduschah gebrauchte Formel (nakdischoch) anwendet, scheint bei dem

süddeutschen Ritus auf eine durch feindselige Verfolgungen hervorgerufene Omission zurückzuführen. Wahrscheinlich gab es Denunziationen gegen die Loyalität der Juden, als ob sie die Krone nur dem Höchsten zuerkennen. Beruht ja das Lcbema Psroel in der K'ednschah von Mussaf 'ebenfalls auf einer Verfolgung durch römische Kaiser, welche das Labema beim Gebete verboten hatten, weshalb es unauffällig an diese Stelle gesetzt wurde. Man muß aber bedenken, welchen Sturm auch die kleinste Abänderung eines Ritus bei den Alten hervorzurufen geeignet war. Noch heute klammert sich der orthodoxe deutsche Jude, trotzdem er manches streng Verpönte und wesentlich Wichtige im Drange der Verhältnisse auf­zugeben gewöhnt worden war, an die kleinsten Aeußcrlichkeiteu des Nigun mit einer ans Lächerliche streifenden Hartnäckigkeit au. Sein 82^2 (claamiron deolmo) im Kaddifchgebete, das eine Viertelstunde dauert, wobei er erfolglos die .Koloratur des alten polnischen Chasan nachzuahmcn versucht und die ohnehin schläfrige Gemeinde in einen Zustand völliger Gedankenlosigkeit versetzt, oder der Kaddisch von Simchas Thora, der ein Potpourri oder vielmehr ein Quodli­bet sämmtlichcr Melodien des Jahres von Pesach, Schebnoth, sogar Tisch'o Beaw und der hohen Festtage einschließlich Purim enthalten muß, eine lächerliche Schrulle die irgend ein polnischer Singmeister zu Zeiten seines Urgroßvaters prodnzirt hat, die nun mit kindischer Pietät als ein Unantastbares vertheidigt und so holperig als möglich kopirt wird, das alles sind Erscheinungen einer lobenswerthen, aber auch wegen ihrer Hohlheit bedauernswcrthen Pietät. Die Ausschreitungen der Verfallzeit waren aber noch weit bedeutender. Jede Gemeinde, die unwissenden Vorsteher voran, wetteiferten in der Feststellung spezieller Minhagim und der Kodifizirung der unbedeutendsten Kleinigkeiten. Man würde die zehn Gebote weit strenger beollachten, klagt R. Jakob Emden, wenn sie im Gemeindepinkes (-buch) ständen.

Da war eine Vorschrift für den Schulrufer, der zum Gebete mit den Worten ruft: Zu Rebiiob (nsniry zum Lobgesang)! Da schreibt das Pinkes vor: