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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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darauf aufmerksam zu machen, daß die Bereitschaft zum Märtyrertode für den Juden nicht nur gegen Anmuthungen zum Religionswechsel, sondern auch gegen den Atheismus gilt.

Dieser feindlichen Taktik verdankt die Reform ihre traurigen Erfolge. Aber das Gros der Judenheit fand der alte Amalek zur kräftigen Abwehr gerüstet. Die Versuche, ihm die Thora zu entreißen, welche der Balschemtow zuerst sig- nalisirt hatte, blieben fruchtlos.

Der Feind sucht nunmehr auf den. Trümmern das Mittelalter zu reor- ganisiren, er hat die spiritistische. Maske angelegt, und, wenn Moses wieder auf­ersteht, wird er Omrtunüin finden, die alle Kunststücke der Pharaonischen zu wiederholen bereit sind. Der in der Schulweisheit der alten Generation aus­gewachsene Philister hat kaum eine Ahnung von der Ausdehnung des Gebietes, das diese scheinbar neue Richtung bereits erobert hat. Für den Arier, der in dem WorteReligionswissenschaft" nur eine contrallictio in ackjecto sieht, genügt ja die mindeste supranaturalistische Thatsache, il ^ a guelgue ebose, um sich gedankenlos an dem Gängelbande des Systemes führen zu lassen, das er Glauben nennt.

Es war die Aufgabe des Chaßidismus, beiden Richtungen entgegen­zutreten.

Die neue jüdische Psychologie.

Den Weg, der durch diese verschiedenartigen Brandungen des Zeitgeistes, den Atheismus und den Spiritismus, führt, bahnte der Chaßidismus durch eine ganz neuartige Behandlung der See len lehre an. An dem gänzlichen Mangel einer solchen Wissenschaft ist das geistige Leben des Judenthums im Westen zu Grunde gegangen, seit die Wolf-Nicolai-Mendelssohn'sche Aufklürerei mit ihrer schalen Scholastik und ihren Wahrscheinlichkeitsbeweisen die religiöse lleberzeugung erschüttert und die Existenz der Seele in nebelhafte Phrasen auf­gelöst hatte. Der seelentödtende Materialismus der neuen Naturwissenschaft hat inzwischen seine mörderischen Orgien gefeiert, und es ist angesichts des Virchowjubiläums gewiß von besondrer Aktualität, das Ende dieses Kampfes zu beleuchten durch eine Reminiscenz aus der Rede dieses Großen auf der Natur­forscherversammlung am 22. September 1877. Von seiner eigenen Theorie aus­gehend, daß der Mensch ein Zellenstaat sei, erklärte er, daß die Folgerungen aus dieser Thatsache nicht auch für die Seele gelten könnten, daß es nicht nöthig sei, sofort das ganze geistige Leben, zu zersplittern und etwa jeder Zelle eine besonder Seele beizulegen. Denn diese Folgerung der Zellenstaatlehre würde einen Punkt berühren, wo die Naturforschung incompetent ist, nämlich die Thaten des Bewußtseins. Daher habe ich, sagte er, immer behauptet, daß es unrecht sei, wenn man diese Thatsache d^ Bewußtseins, welche unser ganzes höhere Leben dominirt, nicht anerkennen wolle in ihrer Besonderheit, und wenn man nicht zugestehen wolle das persönliche Bedürfniß des Einzelnen, diese Thatsache des Bewußtseins in Zusammenhang zu bringen mit einer selbständigen Seele, einer unabhängigen geistigen Kraft, und wenn es ihm nicht gestattet sein solle, auf diesem Grunde sein religiöses Bekenntniß zu sormuliren, wie er es seinem Gewissen und Gefühle nach wünscht. Das ist, glaube ich, der Punkt, wo die Naturforschung ihren Compromiß schließt mit den herrschenden Religionen, indem sie anerkennt, daß hier ein Gebiet ist, welches dem freien Ermessen des Einzelnen, sei es nach seiner eigenen Construktion, sei es nach dem ihm über­kommenen Begriffen zusteht, welches Anderen heilig sein muß." Virchow