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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Dieser Versuch, die damalige Physik, Chemie, Botanik zusammen mit der im Entstehen begriffenen neuen Philosophie, mit der Kabbala und dem Talmud unter einen Hut zu bringen, ist seither nicht mehr wiederholt worben und konnte es auch nicht bei dem außerordentlichen Aufschwünge, den einander verschlingenden wechselnden Systemen und der vollständig atheistischen -Richtung, den die moderne Wissenschaft genommen.

Die Behauptung, daß Euklid eine willkommene Ergänzung des Talmud sei, kann übrigens von rein talmudischem Standpunkte keineswegs acceptirt werden. Der Gaon hat sich damit über die Autorität der Tosafisten hinweg­zusetzen versucht und noch dazu erfolglos. Diese, deren kritischer Sinn nur das eine Ziel kennt, die Wahrheit ohne Rücksicht aus irgend eine Autorität sestzu- stellen, haben ohne irgend welche Profane Bildung und ohne die mathematische Beweisführung zu kennen, auf eigene Art, die ihrem wunderbaren Scharfsinne alle Ehre macht, strenge Kritik an manchen Sentenzen des Talmud geübt, die das mathematische Fach berühren. Sie haben nachgewiesen, daß die Regel: die Peripherie macht das Dreifache des Durchmessers aus, eben so ungenau sei, wie die Berechnung der Hypothenuse mit l?/g Länge der Kathete. Ebenso fragen die Tosafot im Tract. Sukka 8d zu der Sentenz der Richter von Cäsarea, daß der Flächeninhalt des im Quadrat gezogenen Kreises des Quadrates ausmache, nachdem sie eine Demonstration dagegen geliefert haben, wieso die Richter dazu kommen, eine unhaltbare Sentenz aufzustellen, und beantworten dies dahin, es habe ihnen eine Tradition vorgeschwebt, die sie unrichtig ange­wandt haben. In Erubin (16 a) bei Ebaloa a^ul gehen Tosafot noch weiter und sagen, daß R. Jochanau dort und die Abhandlung ün Tract. Sukka sich geirrt hätten. Wenn nun der Gaon den nach dem einstimmigen Urtheil aller Auto­ritäten vollständig mißlungenen Versuch der Rechtfertigung jener Sentenzen und der Abweisung der Tosafisten unternommen hat, so hat er dies mehr als Wunder­kind, denn als wirkliche Autorität unternommen. Der Talmud selbst geht noch weiter. Im Tract. Chulin berichtet er über einen Ausspruch Chiskia's, des Lehrers des R. Jochanan und Sohnes des R. Chija, der im Talmud in so hohem Range steht, daß er und sein Bruder R. Jehuda mit dein Epitheton Engel" belegt werden, und sagt: lieber eine Halacha streiten Engel im Himmel und zwei Amoräer auf Erden, das ist Ehiskia und N. Jehuda. Nun sagt Chiskia dort: Der Vogel hat keine Lullte. Was soll das heißen? fragt der Talmud; das ist ja nicht wahr. Soll also wohl heißen, daß die Vor­schriften der Untersuchung der Lunge nach dem Schächten beim Vogel wegfallen? Man sollte nun meinen, daß der Talmud zur Ehrenrettung eines solchen Mannes es dabei bewenden lassen durfte. Nein, sagt er. Er hat es wirklich wörtlich gemeint, denn sein palästinensischer Zeitgenosse N. Jose bar Chanina hat dazu bemerkt: An den Worten des großen Lehrers merkt man, daß er niemals Hühner zu essen gewohnt war. Der Talmud verlangt aber von dem jüdischen Großen, daß er sich zu dem Range eines Engels emporarbeite, aber ohne daß dazu ein Diplom für Mathematik und Zoologie abverlangt würde. Nichtsdestoweniger kann, wie R. Lipmanu Heller (Uossetot jomtoev) nachgewiesen hat, die Mischna ^.ru^ab in Kilajim Nur mit Zuhilfenahme des pythagoräischeu Lehrsatzes ver­standen werden, und überall, wo der Talmud auf das Gebiet der Wissenschaft einschlägt, finden wir staunenswerthe Sentenzen, die von der aristotelischen Scholastik bekämpft und erst von der modernen Wissenschaft rehabilitirt worden sind. Der Unterschied in der Auffassung des Gaon und der des Chossid liegt vielmehr in dem Ausspruch des großen Maggid R. Dowber über die Natur- kenntniß des Königs Salomo. Wenn, sagt er, Nachmanides behauptet, daß