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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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gesäeten neuen Getreides in unseren Gegenden für das Volk nicht nur unaus­führbar find, sondern durch die bedeutendsten Autoritäten als außerhalb Pa- lästina's nicht zu Kraft bestehend erklärt waren, gerieth er, wie, Beth Schammai gegen Beth Hillel, in Widerspruch mit den führenden Autoritäten. Ebenso ablehnend verhielten sich dieselben gegen sein gewisserinaßen reformatorisches Auftreten gegen viele durch den lLiinImA, den Volksgebrauch, seit Jahrhunderten sanktionirte Gebräuche, im direkten Gegensatz zu dem großen Gesetzeslehrer des Mittelalters, N. Mose Jsserles, der den: L1inba§, dem instinktiven und unfehlbaren Leiter der Volksseele, vor einer lediglich das Buchstabenstudium zu Grunde legenden Gesetzgebung sehr bedeutende Vorrechte einräumt. Wie merk­würdig dieselbe dabei die richtige Fühlung mit den durch Zeit und Raum beein­flußten und geänderten Verhältnissen getroffen hat, möge folgendes Beispiel lehren. Der Genuß des Fleisches von Vieh, das an Perlsucht leidet, ist strengstens ver­boten. Unsere alten unwissenden Snobs der Aufklärung am Ende des acht­zehnten Jahrhunderts, die sich über die Speisegesehe, von dem geläuterten Stand­punkte ihres unersättlichen Magens aus, weidlich lustig machten, mußten zu ihrer Beschämung hören, so weit es ihnen vergönnt war, die Zeiten des modernen Aufschwunges der Wissenschaften zu erleben, daß die moderne staatliche Gesetz­gebung ganz in die Bahnen des Schulchan Aruch einschwenkte und der jüdischen Lehre von der Hygiene, ohne von derselben eine Ahnung zu haben, vom Stand­punkte der profanen Wissenschaft die glänzendste Rechtfertigung zu Theil werden ließ. Zwar hat in allerneuester Zeit Professor Koch, der sich bereit erklärt hat, das Mittel zur Bekämpfung der Tuberkulose erfinden zu wollen, gegen alle früheren und gewichtigen neuen Autoritäten, die Uebertragnng dieser Krankheit vom Thiere auf den Menschen bestritten, aber für das Ritualgesetz bleibt das vollständig gleichgiltig. Nun wollte der in Palästina lebende Verfasser des Schulchan Aruch, R. Josef Karo1575), jede Lunge, an welcher sich

Lircbot, Schleimbänder, zwischen benachbarten Lungenflügeln zeigen, ohne Weiteres als ireka erklärt wissen. R. Mose Jsserles dagegen berief sich auf den seit Jahrhunderten eingebürgerten Ninlla^ der deutschen und polnischen Fleischbeschauer, wonach nur solche Bändchen als richtige Lirellot zu betrachten seien, die einer krankhaften Lädirung der Lunge entspringen, welche der sanften Reibung der Finger einen Widerstand entgegensetzen, sich nicht durch dieselbe ablösen lassen.

Dieser iVlinImZ- entspricht nicht nur dem praktischen Bedürfnisse, da eine völlig schleimsreie Lunge in unseren Gegenden bei dem stärksten Rinde zu den Seltenheiten gehört, sondern auch den durch die klimatischen Verschiedenheiten bedingten veränderten pathologischen Gesehen. In Aegypten z. B. und der ihm verwandten heißen Zone, wo es bekanntlich überhaupt fast keine Tuberkulose giebt, muß die beregte Abnormität der Lungenhäute als organische Verletzung, als Symptom der Tuberkulose betrachtet werden. Im nördlichen Europa hin­gegen, der Heimath des an sich nicht tödtlichen Katarrhs, der immerhin als Vorstadium der Tuberkulose austreten kann, ist die leichte. 8irdm eine unge­fährliche, unvermeidliche Erscheinung. So korrigirt der instinktive lVlinlmA den Buchstaben des Gesetzes, ohne ihn zu verletzen.

Für derartige praktische, Zeit und Ort angepaßte Erwägungen hatte die starre Buchstabenforschung des Gaon keinerlei Verständniß. Durch welche Aeußerlichkeitcn er sich zuweilen bei seinen Entscheidungen bestimmen ließ, lehrt sein Verbot des Genusses von Wasser, das über Nacht in offenen: Gefäß gestanden. Der Talmud verbietet dasselbe nicht auf Grund des rituellen Gesetzes, das nichts davon erwähnt, nicht wegen Issura (ritualgesetzliches Verbot), sondern wegen