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sei zu verstehen die Freimachung des Denkens von allem Körperlichen bis zum Vergessen des eigenen Jchs, um sich in die Andacht, in das Göttliche zu versenken (Nachmanides: bis man zu dem Gefühle kommt, daß alle Aenßcrungen
der Lebensthätigkeit nichts andres sind, als Aeußerungen der göttlichen Lebenskraft, eine Andacht, die an sich über Zeit und Form erhaben ist, aber hauptsächlich durch das Gebet in seiner Zeit herbeigeführt wird, in welchem man tick so sehr in die Betrachtung der Hoheit des Schöpfers zu versenken hat, daß der Körper und die eigene Individualität aus dem Gedächtnisse schwinden. Da es aber dein an das Körperliche gebundenen Menschen äußerst schwer falle, sich von dessen Zwang loszumachen, namentlich infolge der „fremden Gedanken" (^"QL'NV
welche, wenigstens auf Augenblicke, das ungestörte Denken unterbrechen und den Menschen von feinem! Stande abdrängen, sehen sie sich, zwecks Abwehr derselben zu gewaltsamen Bewegungen und lautem Schreien gezwungen, das zuweilen völlige Erschöpfung bis zur Ohnmacht nach sich zieht." (Das veranlaßt wiederum M. zu spöttischen Bemerkungen.)
Er fährt dann fort: „Wenn nun auch diese Arbeit der Religionsübung iin Grunde mit dem angestrebten Zwecke in Einklang steht, so läßt sich nicht leugnen, daß dabei zu Extravaganzen Gelegenheit geboten ist. Die Inbrunst der Andacht ist von der persönlichen Erkenntnißsähigkeit abhängig. Das ^1122, Ausgehen der Körperlichkeit, kann nur Antreten, wenn die Erkenntnißthätigkeit derart von ihrem göttlichen Objekt in Anspruch genommen erscheint, daß dadurch die Los- löfung von der eigenen Individualität Antritt. Solange jedoch die Erkenntniß innerhalb der Denkthätigkeit beschränkt bleibt, wegen der Unerreichbarkeit des Objektes nicht sortschreiten kann, wird ohne Zweifel die Emotion unterdrückt, anstatt sich einzustellen, da alle Geisteskräfte sich um den Mittelpunkt Aires unbefruchteten Gedankenganges schaaren. Man sieht Manche, die mit der Pfeife im Munde den ganzen Tag vor sich hinbrüten, und wenn man sie frägt, womit sie beschäftigt sind, so ist die Antwort: Mit Nachdenken. Das wäre nun recht, wenn die Leute genügende Vorbildung durch naturwissenschaftliche Studien besäßen. Da diese aber sehr armselige sind, so ist dieser unfruchtbare Zustand
ein unnatürlicher.-Wieso sich diese Vereinigung so schnell über das ganze
Land verbreitet hat? Wieso ihre neuen Sitten bei einem so großen Theile unsres Volkes Anklang gefunden haben? Das ist leicht zu erklären durch den natürlichen Hang zu Müßiggang und Schwärmerei, der der Masse der polnischen Juden, die ihre Lebensaufgabe im Lernen und Grübeln sehen, eigen ist, ferner durch die Trockenheit des üblichen Studiums, die schwere Last der immer verschärften Verordnungen der Rabbiner, gegen welche diese Chaßidim Erleichterungen schaffen, und den Hang zum Wunderbaren, der dabei Nahrung findet. Anfänglich traten die Rabbiner und die Frommen der alten Mode gegen diese Neuerung auf, aber erfolglos, ohne daß jedoch der Haß und Streit zwischen beiden Parteien beigelegt wurde, so daß die Judenheit in zwei Lager: OnmAcliin und iVli3im^äim (wörtlich: Gegner) gespalten erscheint. Ich hatte damals als Dorflehrer noch keinen rechten Begriff von diesen Neuen und konnte mir kein Urtheil über sie bilden, bis ich einen jungen Mann kennen lernte, der mein Dorf besuchte und Gelegenheit gehabt hatte, die »Rabbijim »persönlich zu sprechen. Er kannte die Verhältnisse zwar nur oberflächlich, so daß er nicht alle meine Fragen zu beantworten wußte, aber er sagte mir, daß die Ausnahme in den Verein mit/keinerlei Schwierigkeit verbunden sei. Jedermann, der den Willen habe, seine Religiosität zu vervollkommnen, ohne den Weg dafür zu kennen oder die Art, die ihm entgegenstehenden geistigen Hindernisse zu beseitigen, der braucht nur den Rabbi zu besuchen, um