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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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als Anhänger zu gelten. Er brauche dem Nabbi keinerlei Sündenbekenntniß ^ oder Schilderung seiner Mängel vorzulegen, seine Verhältnisse und dergl. zu schildern, da das Herz vor ihm offen liege und alle Geheimnisse der Seele vor dessen prophetischem Geiste und hellsehendem Auge unverhüllt dalägen. Die Vorträge, welche derselbe hält, seien keine vorbereiteten Predigten, sondern je nach der Person unvermittelt eintretende Eingebungen im Zustande der Abstreifung des Irdischen. Die Art und Weise dieser Vorstellung übte einen nachhaltigen Eindruck auf mich, und ich verlangte einige Beispiele zu hören. Der junge Mann rieb sich die Stirn, wandte sich dann mit Ekstase zu mir und sagte mir, wie der Rabbi den Vers bei Elisa erklärt hatte:

Der Prophetengeist kann nicht auf einen Mann kommen, der sich als Subjekt (^P12) fühlt, sondern nur, wenn er als Objekt (^1P2), wie ein musi­kalisches Instrument, dasteht, d. h. rvelmja benagten lmiuena^en, wenn der Säuger (der Prophet oder Zaddik) sich in eine Stimmung versetzt, die ihn sein Musikinstrument gleich macht, nur dann kann göttlicher Geist aus ihn kommen. Ferner soll Mischnah Aboth: ^^2 "s'öp 2 >> 2 N 1122 '1'(behufs ethischer

Nutzanwendung) so ausgelegt werden: Wenn Jemand sich selbst Komplimente machen sollte, so wird er nicht nur keine Freude daran haben, sondern sich lächerlich Vorkommen. Ebenso lächerlich sollen uns aber die Komplimente Vorkommen, die uns Andere machen, da die Ehrenbezeugungen unsren wahren inneren Werth nicht um das Mindeste erhöhen, d. h.: es sei die Ehrenbezeugung Deines Nächsten Dir gerade so lieb, wie Deine eigene.

Diese tiefen Sprüche, die kostbare Ethik in sich bergen, machten großen Eindruck auf mich. Was mir der Mann über die Chaßidim mit­theilte, erregte meine Phantasie derart, daß ich vor Begierde brannte, mich denselben anzuschließen. Mit Ungeduld erwartete ich den Abschluß meiner Dienstzeit und begab mich, anstatt nach Hause, direkt nach Meseritsch, dem Wohn­sitze des Rabbi Dowber. Es dauerte einige Wochen, bis ich den Weg zu Fuß zurückgelegt hatte. Nach kurzer Rast von der Anstrengung ging ich in die Wohnung des Rabbi in der Meinung, sofort ausgenommen zu werden. Aber cs wurde mir bedeutet, daß ich erst zu der gemeinschaftlichen Mahlzeit vorgelassen werden würde, mn während derselben seinen Vortrag zu hören, der auch für meine persönlichen Wünsche Befriedigung bieten würde. Obwohl ich also nicht direkt vorgelasscn würde, sondern nur in Gemeinschaft, sei darin schließlich keine Zurücksetzung zu erblicken. Am Sabbath kam ich zu Tische und fand eine Versammlung ange­sehener Leute, die aus verschiedenen Gegenden gekommen waren. Endlich er­schien der Zaddik selbst, ein Mann von imponirendem,, Ehrfurcht gebietendem Aeußercn, in Weißen Atlasgewändern, weißen Schuhen, sogar mit weißer Tabak­dose. (Weiß ist bei den Kabbalisten die Farbe der Gnade.) Der Zaddik gab jedem Gaste Willkommen (Zcimlom); dann setzten wir uns Alle zu Tische. Während der ganzen Mahlzeit herrschte feierliche Stille. Nach dem Essen stimmte der Zaddik eine Melodie an, die erhaben und das Gemüt!) erhebend wirkte. Dann legte er die Hand an die Stirne und dachte eine Zeitlang nach. Darauf begann er jeden einzelnen Gast bei seinem Namen und dem Namen seines Hei- mathsortes zu nennen. Wir waren selbstverständlich Alle sehr erstaunt darüber. Dann befahl er einem Jeden von uns, einen beliebigen Vers aus der Bibel vorzu­sagen. Nachdem wir dies gethan, begann der Rabbi einen Vortrag, in welchem er mit großer .Kunstfertigkeit die sämmtlichen Bibelverse zu einem Ganzen ver­flocht, trotz ihrer Verschiedeuartigkeit des Inhalts und des Ursprungs von so vielen Orten. Was aber noch wunderbarer war, er wußte es so cinzurichten, daß es Jedem Einzelnen von uns schien, als ob er in dein von ihm vorgelegten