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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Die Damen zogen sich zurück, und da die Thür ein wenig zerbrochen war, konnten sie beobachten, wie der Rabbiner sich in einen Winkel stellte und betete, daß die Schweißtropfen auf seinem Antlitz heraustraten. Das dauerte volle drei Stunden. Dann ließ er sie Hereinrufen. Me Kuckucksuhr, die iiber feinem Lager hing, schlug gerade zwölf.Seht", sagte er,mit dem Schlage zwölf ist dem Kinde besser geworden und hat die Genesung begonnen. Wenn er völlig gesund sein wird, sollt Ihr mit ihm Herkommen, damit ich! ihn segne." Man verabschiedete sich und fuhr nach Hause. Beim Eintreten fragten sie den Lakai, ob eine Veränderung eingetreten sei, und dieser antwortete:Nein, außer daß der Kleine, der bisher immer regungslos dagelegen, als es 12 Uhr schlug, einen Trunk Wasser verlangt hat."

In einigen Wochen", erzählte Darowski,war ich gesund und empfing den Segen des Rabbi, der mir austrug, den Juden wohlgesinnt zu bleiben. Ich habe Wort gehalten und wollte in meinem Alter noch sein Grab besuchen." Da ich gehört hatte, daß er dort inbrünstig geweint und einen Zettel in polnischer Sprache niedergelegt hatte, verschaffte ich mir denselben. Ich zeigte ihn dann dem Professor Biegeleisen in Leinberg, der seine Schrift agnoscirte. Derselbe lautet in deutscher Uebersetzung:Betet Ihr Seelen der Propheten Abraham, Isaak und Jakob für die Seele des verewigten Mendel Torerm und Du, Mendel, wenn Du bereits im Angesichte Gottes bist, bete für die verfinsterten Völker Israel und Polen (ucleluieUon^cb luckove Israela i llolslci), bete für mich, meine Kinder und Enkel. lVlieemslavv IMrovvsbi, svn VVilltnrvi (Sohn der Victoria nach der jüdischen Sitte, auf den Zetteln den Namen der Mutter zu erwähnen).

Sein Brudersohn Pinje, den er im Alter von fünf Jahren vor seinem Ableben segnete, erzählte mir, daß er an einem Sommertage von Grodziec nach Warschau ging. Gegen Abend kam er in ein Wirthshaus im Dorfe Powonzek, eine gute Meile vor Warschau, und wollte, von dem Marsche und der Hitze ermüdet, dort übernachten. Er betete Minchah, lehnte den Kops auf den Tisch und schlief ein. Da sah er im Traume den Rabbi, der ihm befahl:Geh weg von hier!" Er fuhr erschreckt auf, war aber so müde, daß er sich sagte:Der Traum kommt von meiner Anstrengung; ich achte nicht auf Träume." -Und so schlief er weiter. Der Rabbi erschien ihm aber nochmals mit so strenger Geberde, daß er sofort zum Wanderstab griff und die Meile zurücklegte, um aus der Stadt zu kommen. Am andern Morgen hörte er, daß in dem gegenüberliegenden Fort Monkatow stationirte Tscherkessen bei Nacht das Wirthshaus überfallen und keine Seele am Leben gelassen hätten.

Dieser Mann, bei welchem nunmehr derJüd" Schütz gegen seinen Lehrer suchte, verfolgte die Zeitereignisse mit seinem offenen Auge. Sein ganzes Streben und Beten war daraus gerichtet, ein Ende zu machen, wie es die außer­ordentliche Epoche zu gewähren schien, und seinem strengen Charakter entsprechend, auf die Gefahr hin, daß die halbe Generation dabei zu Grunde ginge. Wenn Napoleon dieses Männchen gesehen hätte, so würde er denselben Ausspruch gethan haben, wie s. Z. Alexander der Große bei Simon dem Gerechten!

Die Reise desJüd" durch die 40 Meilen weite Strecke von Polen durch Westgalizien nach Rhmanow glich einem Triumphzuge und ivar die erste Manifestation des Massenchaßidismus, der erste Beweis, daß derselbe trotz aller Angriffe, Verfolgungen, Bannflüche und Verhöhnungen die Massen in unge­ahntem Maße ergriffen hatte. Nun hatte schon R. Elimelech daraus warnend hingewiesen, daß der Chaßidismus keinen größeren Feind zu fürchten habe, als die Massenpropaganda, daß es unmöglich sei, das gan^e Volk zu Philosophen, zu Chaßidiin oder gar zu Sehern zu machen, und daß bei einer solchen Even-