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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Vorsorge trugen. Die Parole war: Selbständige Forschung auf Grund der alten Obalrirab ohne Autoritätsglauben. Vor allem wurde die Kabbala gänzlich über Bord geworfen.

Mit dem Abscheu vor der profanen Wissenschaft verband sich bei diesen, in den Traditionen der mittelalterlichen polnischen Schule ausgewachsenen Köpfen das Fehlen des für die Feinheiten der chabadäischen Wissenschaft und die phan- lasievollen Conceptionen der jüdischen Mystik nöthrgen Sinnes und Gemüthes, eine geistige Rohheit, welche der Franzose des Ostens mit den: des Westens gemein hat, der trotz aller Oloire unwissend und mit keinem Tropfen philoso­phischen Oeles gesalbt ist. Als Ersatz für den Sohar hatte R. Dunem die Schriften des hohen Rabbi Löw, Mahral von Prag, als Fundgrube der For­schung hingeftellt, ein Mondlicht mit wechselnden Phasen der Verdunkelung durch 'Erdschatten und Wolken, über welches der bereits zitirte R. Leibisch Wisznitzer das einzig zutreffende Urtheil gefällt hat:Der Mahral hat mit der Absicht ge­schrieben, daß man ihn nicht verstehen soll; ich mühe mich ab, ihn zu verstehen und verstehe ihn nicht." Der Koziniecer Magid, ein inkommensurables, Alles beherrschendes und durchdringendes Genie, hat in seinen Glossen zu dem hervor­ragendsten Werke des Mahral, dem Oeburotb, sein System enthüllt, klargelegt und einer eingehenden Kritik unterworfen. Er hat dessen Angriffe gegen Mai- monides abgewiesen, dessen Analogien mit dem llri festgestellt, dessen Unvoll­kommenheiten durch das unendlich überlegene System des ergänzt und so indirekt und, ohne daß R. Bunem seine Schriften gesehen hat, den von R. Buncm neugeschaffcncn Autoritätsglauben zerstört, von dem die Regel gilt, daß man die Geister, die man nicht befriedigen kann, zu verwirren und zu betäuben trachtet, um sie unschädlich zu machen, bannt sie wenigstens nicht Böses stiften. Der Einfluß dieses Mannes beherrscht noch heute nach fast einem Jahrhundert das Denken, die Sitten und die religiös-politische Organisation der Massen im sogenannten Kongrcßpolcn, auch die der gegensätzlichen Parteien. Ein um so interessanteres Problem, als sein Weg hart an den Abgründen des Nihilismus vorbei mit ernsten Gefahren für das Judenthum verbunden war, die derart überwunden wurden, daß Talmudftudium und strenge Religiosität sich in diesen: Winkel mächtiger behauptet haben, als überall.

Ein Jahrhundert jüdischen Volkslebens in der Neuzeit, in einer für dessen Bestand gefährlichsten Epoche, bei einer Bevölkerungszahl, die einen Wechsel von Millionen Individuen wahrend dieses Säkulums bedeutet, beansprucht einen größeren Platz in der Geschichte als fünf Jahrhunderte des Mittelalters, in denen von den für den Scheiterhaufen bestimmten nur immer soviel übrig gelassen wurde, als für die späteren Gernrationen genügendes Material zur Ergötzung an den Autodafes nöthig war. Der Chaßidismus hatte die Aufgabe übernommen, die Massen vor dem droheirden Abfall zu bewahren, wie er im Westen thatsächlich eingetreten ist. Die Mittel der alten Schule, Bannfluch und Gewaltmaßregeln, waren nicht mehr anwendbar. Moralpredigten und gelehrte Vorträge haben nicht mehr Einfluß als das Theater aus die Veredelung der Massen, bleiben sogar noch beträchtlich hinter letzterem zurück, das seinen Hauptesfekt in der Spekulation auf die niedrigsten Instinkte, den Heroismus des Lasters, der Lüge, des Mordes und der sexuellen Perversität, findet. So hoch die Moral des Juden vermöge seiner strengreligiösen Erziehung, seiner uralten Kultur und der damit ver­bundenen vererbten Abneigung gegerr das Laster und vermöge des Läuterungs- Prozesses feiner Geschichte auch über jenem Niveau steht, so fehlt es ihm als Menschen doch nicht an niederen Trieben, die idealcir Triebe der Seele und des Geistes in den Staub zu ziehen. Es war daher die erste Aufgabe des Volks-