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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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faden mit auffällig« Inbrunst küßte, besuchte ihn einmal ein Przysucher Kamerad in Krakau inr Bcthhamidrasch. Selbstverständlich mußte er ihn nach Hause zum Essen laden und seine Begleitung annehmeri. Mieses war der Schwiegersohn des reichsten Hausbesitzers, trug einen theuren Kalpak und feinen schwarzen Seiden- kastan an Wochentagen und mußte nun in der dainals sehr chaßidimfeindlichen Großstadt die langen Häuserreihen des alteil und neueren Ghettos in Begleitung des Kameraden passiren, eines baumlangen Mannes im Spodek (gemeine Pelz­mütze), an der nur mehr 3cbreb ssaares (2 Haare) übrig geblieben waren, in einer sogenannten blechernen Schubbeze aus Cotton von sehr unbestimmbarer Farbe, in ungeputzten Schuhen lind Strümpfen, die in ihrer Jugend weiß waren, mit zunehmendem Alter jedoch in einein secessionistischen Ueberblond schillerten. Neben ihm der kleine, häßliche, seidene Geck, ein Schauspiel, das alle Frauen an die Fenster rief. Mieses konnte seine Verlegenheit nicht verbergeil, und da sein kleines Inneres leicht zu durchschaueil war, so merkte der Begleiter, daß er sich seiner schäme. Er zog sofort die Schuhe aus, nahm sie unter den Arm und trabte in bloßen Socken durch den Straßenkoth mit ihm bis zu seiner Wohnung. Warum thust Du das?" fragte Mieses schüchtern.Du bist ein großer Mann," war die Antwort.Ich werde Dir den Fußboden mit den Schuheil verschmieren. Verschmier' ich mir lieber die Socken, Hab ich reine Schuhe und Du eineil reinen Fußboden." So geht es, wenn man mit Stoikern Duhbruder sein will.- Derartige Extravaganzen, die daraus angelegt schienen, alle Traditionen der guten Sitte auf den Kopf zu stellen, gab es, in Hülle und Fülle. Eine Ent­schuldigung für dieselben bieten nur die Zeit- und Ortsvcrhältnisse einer Provinz, welche, eine Zeit lang unter preußischer Herrschaft, an die preußisch-polnischen Landestheile grenzte, die unter dieser Herrschaft im Handumdrehen germanisirt, assimilirt und in bisher unerhörter Weise reformirt worden lvar, ein Uebel, dem mit Gegenmaßregeln extremster Art entgegengetreten werden sollte. Die Heilig­keit und Gelehrsamkeit von Männern, wie R. Akiba Eiger und Genossen, vermochte dagegen eben so wenig, wie die Frömmigkeit der Alteil in Posen im Beten, Fasten und Lernen, die sich in kindlicher Einfalt gegen die Neuerungen der Radi­kaleil auf den Schulchan Aruch beriefen und lieber die Religion als die gute Sitte Preisgaben, die jedes laute Wort als Skandal perhorrescirt. Man erzählt von den Brodyer Latlonim (Stubengelehrten), daß, als einst eine Feuersbrunst die halbe Stadt einäscherte und Alles in höchster Hast durcheinanderlies, zwei Latlonim in der Klaus sitzen blieben. Als der Eine den Feuerschein sah, sagte er zum Andern:Hörst Du, die llewone (der Mond) hat hellte ein austerisch Ponim (eigenthümliches Aussehen) I"Hast Recht," sagte der Andere.Ich Hab bekabole (eine Tradition), daß, wenn die llelvone so aussicht, soll man sagen: Gewalt!" So stellten sich Beide in den Winkel und sagten:Gewalt, Gewalt, Geloalt!" (Der polnische Alarmruf.) Inzwischen fingen die gegenüber­liegenden Häuser zu brennen an.Haste gehört!" sagte der Erste, der die Aenverung der llmvone zuerst bemerkt hatte.Ich mein', Du hast schlecht ver­standen; man muß nicht sagen, sondern schreienGewalt!"

Dazu konnten sich die alten Orthodoxeil nicht herbeilassen; es verstieß zu sehr gegen den bon lon. In dem angrenzenden Polen siel man nun in das entgegengesetzte Extrem und suchte den neuentstandenen Freiheitsdrang, den die Mmiiwurssarbeit der Umstürzler bei den Reicheil und tonangebenden Gemeinde- Häuptern gegen die Religion ausstachclto,, durch die Gründung dieser religiös- demagogischen Burschenschaft, deren llttgebundenheit das beste Lockmittel für die Massen lvar, gegen die Reform und das mit ihr im Stillen verbündete Philister­tum zu verwertheu. Eine gefährliche Pal-tie,,bei der so manche Qualität ge-

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