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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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opfert wurde, um den Gegner matt zu setzen. Der einmal entfesselte Burschen­geist der Jugend wendete sich dabei freilich gegen Alles, was außerhalb seines Kreises stand und demselben, auch wenn es die alten Chaßidim waren, Oppo­sition machte.

Da dieser junge R. Mendel der größte Scharfmacher ivar, dem sein Lehrer selbst nicht radikal genug erschien, so trug er im eigenen Kreise leicht den Sieg über die Gemäßigteren davon, auch wenn Lei den Debatten die derbsten Kraft­worte und die härtesten Holzleuchter den Gegnern an die Köpfe geschleudert werden mußten. Sein Programm, das drei Positiva enthielt: Talmudstudium, keine Ceremonie begehen, ohne sich zu fragen, warum? und Corpsgeist über Alles, zog ihm alle jungen Leute zu» dielernen" konnten, ferner alle Grübler und Zweifler, endlich Alle, deren höchstes Ziel darin bestand, sich auszuleben, freilich ohne die geile moderne Bedeutung.

Der bereits erwähnte Rabbiner von Sosnowice hat diesen Mann beobachtet, wie er an einem Sommertage von 6 Uhr früh vor dem Gebete bis 7 Uhr Abends, wie angenagelt, den rechten Fuß auf einen Stuhl gestützt, einen schweren Amsterdamer Uit in der Hand haltend, denselben durchftudirte, sich mit dem Finger deutend, ohne einen Laut von sich zu geben. Die ernsten Gegner sagten, das ist der richtigeJemand, der sich in die

Halacha vernagelt", von dem der Talmud behauptet: X^X ^ HX 1V1XN ^3 s?1^X HXL> NV11 N31NWer den Satz aufstellt: Nichts als Studiüm,

der hat keine Religion mehr!"

Was den zweiten Punkt anbelangt, so ging die Extravaganz dabei so weit, daß drei seiner Hauptmacher, Hirsch Tomaszower, Hirsch Parzower (der später Jahrzehnte lang als Vorbeter fungirte) und Chaim Ber Grabowitzer, sich als junge Leute einmal verabredeten, drei Tage lang ohne Tesillin zu beim, um zu sehen, ob und welche Aenderung die Unterlassung aus das Gebet Hervor­bringen würde. Sie haben es später bereut und abgebüßt; aber es ist bezeichnend für die Nachwirkungen einer Geistesströmung, wie sie der Üuscddo, was Vernach­lässigung der Riten betrifft, 600 Jahre früher in seinen Anschuldigungen der Proveiwalen unter Führung des Bedraschi geißelt. Was den dritten Punkt: Nur gelebt" anbetrisft, so sagte ein großer Gegner dazu: X1N Xvv '»NN 3^3^ Das lebendige Fleisch ist unrein."

Wehe dem privatisirenden kleinen Rebben der alten Schule, der über keinen genügenden Anhang verfügte und solch einer übermüthigen Burschenschaft in die Hände siel! Wenn er Elm^os, die Mitternachtsklage, über die Zer­störung Jerusalem's, einsam auf der Erde in seinem Bethhamidrasch beim Ofen sitzend, abhielt, so konnte er eine klagende Stimme von Oben vernehmen, und so wie er aufblickte, um zu sehen, woher das komme, hatte er schon ein großes Pommeschaff (Spülichtzuber) über dem Kopf. Am Schlimmsten kamen die wenigen übrig gebliebenen misnagdischen Rabbiner weg, namentlich wenn sie einfältige Querköpfe waren, und gegen die neue Ordnung oder Unordnung eiferten. Solch einem Verfasser bohrte man über seinem Sitze am Sabbathtisch einen Tag früher ein Loch in die Decke, und sobald er den Becher in der Hand hielt, bekam er einen naturalistischen warmen Wasserstrahl hinein von sichrer Hand.

Selbstverständlich wurden auch die Großen nicht verschont, da überhaupt außerhalb des Vereins keine Autorität geduldet wurde. Und es gab sehr be­deutende Schüler der Alten, die gar hoch über diesen Massen standen.

Das Bild, das diese erste Entwicklung des Volkslebens nach unsäglicher Knechtschaft bietet, läßt immerhin im Vergleiche zu der abscheulichen Anarchie,