diesen Materialisten niedrigster Sorte setzte die chaßidische Polks- organisation den erfolgreichsten Widerstand entgegen, so daß es auch den ihrer Natur nach schwächlichen, deutsch erzogenen Orthodoxen des Niedcrlandes möglich war, ihre Positionen besser zu behaupten, als ihren Kollegen in Deutschland und dem Westen. Zwar war das Oberland kein Boden für die Entfaltung besondrer Gelehrsamkeit. Es ist eine in der Neuzeit festgestelltc Thatsache, daß das Hochgebirge überall der geistigen Entwicklung wenig förderlich ist. Die erst in neuester Zeit beobachtete Bergkrankheit, die den Hochtouristen befällt, feine Willens- und Empfindungskraft auflösend, die bei Ballonfahrten einen derartigeil Höhengrad erreicht, daß es dem Erfrierenden nicht möglich ist, bei wachem Bewußtsein die Hand zum Munde zu führen, scheint sich bei dem Bergbewohner zu der in allen Hochgebirgen heimischen Krankheit des Cretinismus und Idiotismus zu verdichten, die dann bei scheinbar Gesunden auch immer noch als geistiges Defekt verlarvt nachwirkt. So ist denn auch der Chaßidismus dieser Gegend mehr äußerlicher, sehr untergeordneter Natur, ohne tieferes Geistes- und Gefühlsleben, und empfängt seine Nahrung ebenfalls aus den untergeordneten Kategorien der polnischen Schulen. Darin liegt aber die weise Taktik des Chaßidismus, daß er behufs Wahrung der Religiosität der Massen sich auf den gemeinen Männ mehr eingerichtet hat, als ans den Stubengelehrten. Deshalb hat er auch mit den Jeschiboth und ihren Bachurim ganz lind gar gebrochen, auf welche die alte Schule in dein nördlichsteil wie in dem südlichsten Grenzgebiete, in Litthauen und Nieder-Ungarn, noch immer das Hauptgewicht legt. Wenn man bedenkt, daß vor Jahren im russischen Ministerium des Innern 60 Gehilfen nachgerechnet wurden, die als Renegaten aus den Jeschiboth beim Schmieden der judenfeindlichen Gesetze thätig waren, und dazu die Unzahl von Nihilisten, Missionären, Brnnanussen oder Nenhebräcrn und anderer unaussprechlicher Lumpaeivagabundi rechnet, die wie Bohrwürmer an dem Eichenwald der Thora nagen, so fragt man sich, ob der Nutzen, den einzelne hervorragende Gelehrte gestiftet haben, den unermeßlichen Mißbrauch aufwiegt, der, wie seit jeher mit den heiligsten Gütern der Menscheit, hier mit den geheiligsten Geistesschätzen der Thora getrieben wird. Ebenso habeil die aus den alten westlicheil, böhmischen und mährischen Jeschiboth hcrvorgegangenen Größen keine Spur ihrer Wirksamkeit hinterlassen, sind vielmehr von den zerstörenden Elementen vollständig überflügelt worden, bis auf einige Oasen in der Wüste, deren Bestand eigentlich nur in dein religiösen Untergründe wenig gebildeter Volksschichten wurzelt. Der pädagogische' Grundfehler, den der Chaßidismus unbedingt vermieden wissen wollte, liegt darin, daß mit einer durch den Druck des Golus seit Jahrhunderten sanktionirten Vernachlässigung der primitivsten Gebote des Talmud und des Schulchan Aruch der Schwerpunkt der Erziehung zukünftiger Seelenhirteil nach arischer Sitte in die Flegeljahre verlegt wurde, die gefährlichste Periode der menschlichen Entwicklung. Diese sogenannte Sturm- und Drangperiode nüt dem beliebteil Schlagworte des Kampfes zwischen Glauben und wissen ist genau betrachtet nichts als die Periode des Kampfes zwischen thierischer und seelischer Entwickelung. Für das ausgesprochene egoistische Ziel des Brotstudiums in irgend einem profanen Fache mag diese Periode vielleicht die günstigste sein. Daß aber in derselben irgend ein Grad religiöser Vollkommen- heit'und unabhängiger selbständiger llrtheilskraft mit geläuterter Weltanschauung erreicht werden könne, muß unzweifelhaft verneint werden.
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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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193
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