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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Abschnitt schließt also mit einer Sentenz von historischer Wichtigkeit nnd hoher Toleranz. Beide bieten uns einen Einblick in die über den krassen römischen und arischen Aberglauben erhabene Geistessvhärc unserer Tannaiten.

Die Phantasie, die positivste Seelenkraft des Menschen, von der^, seine Erzeugung abhängig ist, die über weit reichere Hilfsmittel verfügt als die negative, nackte, prüfende Vernunft, welche die Oede des Gehirns in dem frühesten, noch halb thierischen Zustande des Kindes ausfüllt, dem spaten Gaste Vernunft eine oft schlecht vergoltene Gastfreundchaft bietend, nnd seine höchsten Errungenschaften begründet, kann für die Jrrthümer und Ausschreitungen des Aberglaubens um so weniger verantwortlich gemacht werden, als dieselben meistentheils auf Kombinationsfehlcrn des unwissenden Verstandes beruhen. Wenn Jemand den Satz aufstcllen wollte, daß ein einzelner Mensch die Thätigkeit eines Vulkans beeinflussen, denselben durch ein Stückchen Papier aus seiner Ruhe aufstören kann, so würde man sich wohl keinen krasseren Aberglauben denken können. Und doch zeigen die Führer dem erstaunten Touristen dieses Kunststück auf dem längst bis auf eine kleine Krater­spalte erloschenen Solfatara, dem Nachbarn des Vesuv, und auch auf diesem selbst. Das Anzünden eines Stückchen Papieres genügt, um die Krater in Thätigkeit zu versetzen. Freilich erklärt sich dies auf natürlichem Wege durch das Vacuum, welches durch Erhitzung der Luft im Umkreise des brennenden Papieres durch Einströmen kalter Luft ausgefüllt wird, wodurch der Luftdruck auf die Kraterwände aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Der Schlund, dessen Spannung in unermeßliche Tiefen sich fortsetzt, reagirt auf die leiseste Lockerung seiner Fesseln. Dasselbe Verhältnis; gilt für den Stecknadelknopf der Linse im Auge. Der Verstand, dessen Studirstubc hart nebenan ist, ist durch die Wände derselben von der Außenwelt abgespcrrt, während der Gesichtssinn des Auges mit einem Blicke Billionen Meilen im Universum durcheilt und an den Aetherschwingungen auf unendliche Fernen partizipirt. Archimedcs' Forderung:Gebet mir einen festen Punkt, und ich werde den Erdball aus den Angeln heben", zeigt uns die Kraft der Phantasie in eben so Hellem Lichte, wie die sie aufhebende Gegenwirkung der Vernunft. Beide sind die untersten Stufen einer höheren, über dem Gefüylssystem liegenden Skala, dessen oberste Stufen Liebe und Furcht sind, die sammt ihren Gefährten von der Phantasie geboren werden. Das­selbe, was von dem Wesen der letzteren gilt, kennzeichnet auch die ersteren. Phantasie ist eine centrifugale, synthetische Kraft von äußerster Ausdehnungsfähigkeit, Vernunft eine centripetale, analytische, dem Ursprung des Seins znstrebende. Beide als Gegensätze sind Theile einer höheren Einheit, gewissermaßen die Arme des Willens, der beide seinen Zwecken dienstbar macht, um den Weg durch den Ocean der Unend­lichkeit zu finden. Wille ist Weg. Die menschliche Phantasie ist der Abdruck Paralleler Kräfte in der Schöpfung. Die thörichte Scholastik verwechselt Ein­bildungskraft mit Bildungskraft. King-U, die bauende, nennt sie der Hebräer. Wir begegnen ihr im Mineralreich, in der anorganischen Seele, in der Bildung der verschiedenartigsten Krystallsysteme mit ihrem außerordentlichen Formenreichthum, wie auch in der Farbenpracht der Edelsteine und Edelmetalle, uud parallel mit diesen im Pflanzenreiche in der wunderbaren Aesthetik der Blumcnformationen und ihrer Farbenpracht. Wer einen Kirschbaum in voller Blüthe betrachtet, der erstaunt darüber, daß es dem durch eine hundertfache Ahnenreihe von Kannibalen zur Sklerose verurtheilten Hirne des modernen Forschers möglich erscheint, die brutale Boxerphrase, Kumpf ums Dasein, Recht des Stärkeren, zur Schöpfungsgrundformel zu erheben, wahrend nach der jüdischen Lehre die NN12), Strenge, Stärke (8tror>A), nur eine der sechs-Speichen im Rade der Weltharmonie liieret darstellt. Im Thicrreiche tritt bei den höheren Arten mit dein Auftreten der Spuren vernünftigen Bewußtseins die Macht der Phantasie zurück. Die Farbenpracht der Pflanzenwelt hat ihren