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Parallclismns nur noch vollständig in dm einfachen Organismen der Vogclwelt, wo häufig an die Stelle der Farbenskala die Tonskala in entzückender Vollendung an ihren Platz tritt. Im höchst entwickelten Menschen tritt die Phantasie in einen amorphen Zustand zurück, sie verliert ihre selbständig bauende Kraft und wird den Geisteskräften dienstbar. Wo aber der Mensch in den ihm vorangehenden Reichen wurzelt, zeigt sie sich in ihrer Machtentfaltung.
Das Stück wandelnder Gartenerde, Mutterleib genannt, birgt einen kine- matographischen Apparat in sich, der nicht npr eine einzige Doppelphotographie der Eltern, sondern höchstwahrscheinlich eine endlose Ahnengallerie in ein einziges Exemplar zusgmmengeschobeu und mit unbegreiflicher Genauigkeit wiedergiebt. Wir iin Osten, die wir Gelegenheit haben, fünf bis sechs Geschlechter 'der Reihenfolge noch kennen zu lernen, haben häufig genug Gelegenheit, in markanten Gesichtern die verschiedenartigsten Profile und hervorstechendsten Züge der Vorfahren beider Geschlechter in einem Individuum vereint zu sehen. Wir können ferner bei Familien, die ans große Entfernungen verstreut wohnen, durch die Aehnlichkeit gewisser Gesichtszüge das Bild eines vor 150 Jahren lebenden gemeinschaftlichen Stammvaters rekonstruiren, trotzdem kein Individuum dem andren vollständig gleicht. Die überraschende Aehnlichkeit der Glieder ein und derselben Volksfamilie in Jemen, Polen und Indien, die durch Jahrtausende außer Berührung waren, und dieser selbst mit den Darstellungen auf den ältesten Denkmälern, beweisen, daß, was wir Typus nennen, nichts andres ist, als der Abdruck der Züge ein und desselben Stammvaters. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß dereinst psychische Fähigkeiten im Stande sein werden, aus dieser in zahllosen Plättchen in einander geschobenen Kollektivphotographie die separirte Reihenfolge der Geschlechter wicderherzustellen. Ueber dieses Problem hilft sich die moderne Forschung hinweg, indem sic, wie Darwin, die Fortpflanzung „das Geheimniß der Geheimnisse" nennt, eine freie Forschung, die beim Eingangsthor der Wissenschaft ans Grund eines mystischen Passirscheines Einlaß begehrt. Die Phantasie ist keineswegs die niedrige Negersklavin, als welche sie Aristoteles betrachtet, deren sich die Königin Vernunft zur Ausführung der niedrigsten Verrichtungen bedient. Im Gegentheil. Die Phantasie ist vielmehr die despotische, launenhafte, in ihrer Willkür jeder Logik spottende Königin, die sich des spindeldürren, schlecht besoldeten, griesgrämigen Rechenmeisters Vernunft zur Ordnung ihres Haushaltes bedient. In seinen großartigen „acht Abschnitten" zu der Agada von Sanhedrin tritt Maimonides der Ansicht der Phantasten entgegen, daß alle Monstrositäten, welche die Phantasie ersinnen kann, auch in Wirklichkeit existiren müßten, auch wenn es ein Kameel wäre, das zugleich Vogel, Land- und Wasserthier sei. Kann es etwas Thörichteres geben, als diese Ansicht, welcher der große Weltweise, wie es scheint, ziemlich überflüssig entgegenzutretcn sich bemüßigt sieht? Und dennoch war auch in diesem Falle die Philosophie nur eine Krücke aus Schilfrohr, die unter dem Drucke der sich auf sie stützenden Hand zerbricht und dieselbe verletzt. Denn was die Phantasten in Trugbildern geahnt und was die Maimonides unbekannte, von Mose Chajim Luzzato ans Licht gezogene uralte jüdische Kosmogonie deduktiv behauptet hat, das hat neuerdings die mit Schaufel und Spaten arbeitende Forschung ans Licht gezogen, daß die durch die den Bruch, d. h. die Trennung der Sphürenharmonie, der freien
ungezügelten Entwickelung überlassene Phantasie des Tohu in der That derartige Monstrositäten als Versuchsstationen hervorgebracht hat, welche die wüsten Träume der Phantasten überflügeln. Freilich waren es Gebilde, die in ihrer Unvollkommenheit gegenüber dem Schvpferwillen, den Keim des Unterganges in sich trugen, Ausgeburten der Phantasie, aber nicht im abstrakten, figürlichen Sinne des Wortes INO, sondern mit konkretem Inhalte. Und aus dieser Sphäre, die sich auf Gebiete des