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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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todten Buchstabcnwortlaut verstehe. Das gilt nicht nur von der Kabbala und der absichtlich in Dunkel gehüllten Agada des Talmud und Midrasch, sondern auch von den in philosophischem Gewände auftretendcn Systemen. Für die letzteren tritt dabei die Wechselwirkung ein, daß sie, wie namentlich beim Run, äußerst merkwürdige Wegweiser für den chaßidischen Jdecnkreis liefern.

O6i'A8oIig.d IV. Ueber das Wesen der Vorsehung. Ganz im Sinne des R. Israel Balschemtow, der zu der Eintheilung der Thora in 4 Kate­gorien, --- 11O 7Q-1 d. h. einfache, symbolische, allegorische

und mystische Auslegung, eine fünfte hinzugefügt, indem er sagt, daß nach Abschluß derselben ein höheres, im Durchgänge durch die ersten vier geschärftes, geläutertes und gehobenes Verständnis; mit dem Eindringen in den einfachen Wortlaut des Pentateuch das tiefste Geheimnis; mit der einfachsten Anschauung in Harmonie bringt, entwickelt der Run mit der in seinen Talmudstudien bewunderten Klarheit die Erklärung des tiefsten kabbalistischen Problems und liefert zugleich einen von einem Vorgänger erreichten und von keinem Nachfolger übertroffcncn Kommentar zu dem Dialoge zwischen Mose und feinem Schöpfer in Betreff der Leitung Israels in 2. B. M. 33,12. Es handelt sich um die vermittelnden Kategorien, die zwischen der modernen Welt und dem Unendlichen, Einzigen gedacht werden.

Der Run tritt (S. 25) hierbei der pietistischen Heuchelei mit folgenden Worten entgegen:

Nicht wie die Frömmler sagen zu müssen glauben, daß die Allmacht der Vorsehung überall gleich ist, zum Lohnen wie zum Strafen; nimmermehr. Vielmehr hat der Schöpfer die Natur derart angelegt, daß es Orte giebt, die verderblichere Gefahren in sich bergen als andere, so daß der Mensch, der sich dort den Wechsclfällcn der zeitlichen Natur aussetzt, ohne besonderes Eingreifen der Vorschlag verloren wäre, was wieder an anderen Orten nicht der Fall ist. Nur ein Mensch wie Mose, dessen Erscheinung an und für sich ein Wunder war, indem er, obwohl Mensch, nur als solcher an die Einflüsse des Körpers gebunden, durch die Hoheit seines Geistes sich die Naturgesetze vollständig dienstbar gemacht hatte, konnte die Region erreichen, in welcher der Verkehr mit dem Höchsten allein ohne Vermittelung stattfindet.

Wie man sich den Unterschied zwischen der Leitung ohne Vermittelung oder durch die Dazwischenkunft von Gott bestellter, vermittelnder Engel oder Sphären zu denken hat, darüber lehrt R. Elimelech im Eingänge feines Buches, daß wir die göttliche Allwissenheit nicht mit dem Maßstabe der menschlichen Erkenntlich messen dürfen, welche ohne freien Willen durch die äußere Einwirkung der Sinne in Bewegung gesetzt wird, dem naturgesetzlichen Zwange des Wissens und Erfahrens ausgesetzt ist, gleichviel, ob das geistige Ohr hören will oder nicht. Da vielmehr das Wesen des Unerforschlichen über alle menschlichen Begriffe und deren Maßstäbe erhaben ist, so müssen wir aus dem Gegensatz von und

Borauswissen und Freiheit der Wahl, gegenüber dem Maßstabe der echteren den Maßstab der letzteren in Anwendung bringen und so die anthropomorphe Gleichung aufstellen und sagen: das höchste Wesen hat vollständige Freiheit, seine Allwissenheit hat die Freiheit, zu funktioniren oder die Objekte dem Gesichtsfelde seines Wissens zu entrücken, wie es Hecht:Und Ich werde Mein Antlitz vor ihm verbergen an jenem Tage". Man darf dabei keineswegs vergessen, daß wir bei diesen gegensätzlichen Gesichtsbildern, die Mangelhaftigkeit und Halbheit unseres Erkenntnißvermögens keinen Augenblick außer Bewußtsein verlieren dürfen oder, wie Maimonides sagt, dem Wanderer in finsterer Nacht gleichen, dessen Weg kein anderes Licht beleuchtet, als das auf Momente einfallender und wieder verschwindender