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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
Entstehung
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schwer zugängliche Literatur vertiefen, die eine vollständige Vertrautheit mit dem in seinen eigcnthümlichen Gehirnwindungen durch Jahrhunderte entwickelten talmudisch- rabbinischen Gedankengauge und den in den letzten drei Jahrhunderten ausgebauten kabbalistischen Systemen voranssetzt, aus welchen sich die chaßidischen Systeme mit Hilfe einer der neuesten Philosophie parallel laufenden psychologischen Induktion in einer Art freier Forschung zu klarer Erkenntniß durchzuarbeiten bemüht sind. Es giebt da mindestens 70 Hauptwerke, deren jedes einer ganz speziellen Individualität entspringt. Mit Ausnahme der sehr umfangreichen chabadäischen Schriften mit aus­gesprochen didaktischem Bau und Zwecke sind die meisten übrigen nicht von den Lehrern selbst, sondern von den Hörern als impressionistische Momentmitthcilungcn niedergeschrieben, wobei der Grundsatz gilt, daß der Rabbi zu mündlichen Mit­theilungen sich erst dann gezwungen sieht, wenn das Organ des Gedankens die Fülle nicht mehr faßt und überschäumend seinem Inhalte Wortform giebt. Einen Parallelismus, der für das richtige Berständniß dieser Methode nützlich ist, bietet auf fremdem Gebiete das Dichterwort:

Wie mir der Dichter gefällt?

ÄZenn ihm vor innerer Fülle

Jegliche Ader zerspringt, daß der entfesselte Strom

Droben die Sterne bespritzt und drunten die Blumen beträufelt

Und das feurige Herz doch nicht den Mangel verspürt.

Nur vom Ueberfluß lebt das Schöne, das merke sich Jeder,

Habt Ihr nicht etwas zu viel, habt Ihr mitnichten genug!

Es ist der Grundgedanke, welcher der mündlichen Tradition als wesentliches Merkmal seitens des Talmud zugeschrieben wird, daß die mündliche Lehre nicht niedergeschrieben werden soll, weil sie nicht niedergeschrieben werden kann, und wer hervorragende Männer persönlich gekannt hat, weiß den außerordentlichen Abstand zu würdigen, der zwischen dem geschriebenen, dem gesprochenen und dem gedachten Gedanken klafft. Ein richtiger Choßid wird diese Werke auch nur in besonders günstigen Stunden freier, geistiger Sammlung, hauptsächlich nur in den Morgen­stunden des Sabbath vor dem Gebete lesen. Daher die viel angefochtene Neuerung, daß diese Gebetsstunde so weit als möglich hinausgeschobcn wird, und doch ist diese Neuerung uralt. So schreibt, vor etwa tausend Jahren, R. Naturai Gaou in Resf). (Monim 87: 1» daß das Studiren vor dem Gebete

am Sabbath trotz der Kollision mit den Vorschriften über die Gebetsstunde noch von den Propheten aus der Zeit des babylonischen Exils herrührt, mit Rücksicht auf die schwierigen Lebensverhältnisse während der Wochentage. Für den deutschen Leser, der für dieses Studium erst nach dem Sabbathtisch ein Mußcstündchen findet, das noch dazu durch die gesellschaftlichen Pflichten des Durchblätterns von zwanzig neuen Zeitschriften und alten Tanten beeinträchtigt wird, bleibt dasselbe absolute Unmög­lichkeit. Aber auch für den Fachgelehrten handelt es sich da um sehr beschwerliche Hochtouren, die der Choßid aus Lust unternimmt, um frische, reine, weithin durch­sichtige Luft zu alhmcn, sich mit jedem Schritt weiter über das kleine Getriebe des Tages, über den Kampf der Begierden zu erheben, ein Bedürfniß nach erhabenen, edleren Eindrücken, in idealem Sehnen. Wer dafür nicht vorbereitet ist und dennoch diese verschiedenartigen Eindrücke auf kurzem Wege kontroliren will, für den ist der Run das pneumatische Kabinet, in welchem diese Jdeengänge in gedrängtem Raume in ihren verschiedenen Graden zur Anschauung gebracht werden.

Kehren wir also zum Run zurück! Die Grundlage des religiösen Dienstes ist die Gesinnung des Herzens für die Befolgung der Gebote und Verbote. Von ihm hängt demnach sowohl Treue als Auflehnung ab, und nicht nur von dem Willen, sondern auch von der Stimmung des Herzens, welche die Annäherung an