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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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das höchste Wesen bedingt, durch Gefühle, die an und für sich weder Geboten noch Verboten unterliegen, als da sind Frohsinn und Trübsinn. Von diesen hängt nach Pesachim 117 die Annäherung und die Prophetie ab, welche in einem von Trübsinn, Abgespanntheit und Niedergeschlagenheit erfüllten Herzen sich nicht einfindeu, sondern nur, wenn es Frohsinn und Freude erfüllt. Diese innigste Andacht, die den Menschen mit seinem Schöpfer verbindet, wirdWohnsitz des Göttlichen" genannt und

setzt als Vorbedingung die entsprechende Herzensstimmung voraus, weil die prophetische Kraft sich durch Vermittlung der psychophysischen Kraft der Phantasie äußert, die wiederum uur in einem harmonisch gestimmten Körper sich entfalten kann.

Damit ist die Frage zu lösen, warum die Vorsehung es wollte, daß Isaak ' seinen Sohn Jacob segnete, ohne zu wissen, daß er diesen und nicht dessen Bruder vor sich habe, obwohl dadurch der ewige Haß des Letzteren begründet wurde. Die Antwort lautet: Weil Isaak, über den wahren Charakter Esau's von diesem

getäuscht, denselben liebte, und, wenn ihm dessen Unwürdigkeit enthüllt worden wäre, darüber in solchen Trübsinn gcrathen wäre, daß die göttlich prophetische Kraft des Segens bei ihm keine vollkommene Stätte gefunden haben würde. Wieso konnte jedoch der Segen auf Jacob ruhen, während der Wille des Segenspenders denselben auf eine andere Person zu richten glaubte? Der Prophet übt eben auf die göttliche Macht keinen Einfluß durch seinen Persönlichen Willen, sondern ist nur ein Sprachrohr, durch welches sich der göttliche Gedanke und selbst die denselben zum Ausdruck bringenden Worte äußern, so daß er nicht einmal die Vermittlung der Uebersetzung des Gedankens in von ihm selbst gebildete Worte zu besorgen hat. Es gleicht Isaak in diesem Falle dem Säemann, der Gerstenkörner in der Hand zu haben glaubt, aber Weizen auswirft. Es wird daher Weizen wachsen, unbekümmert um die Vorstellung des Säenden. Ein ähnliches Verhältniß finden wir bei Daniel, dem das Endziel der Erlösung in einer Form enthüllt wurde, die ihm selbst das Verständniß und die genaue Zeitbestimmung verhüllte, wie er dies dreimal selbst eingesteht, weil erstens die erschreckend lange Dauer nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, und weil zweitens die Prophetie selbst am Ende ihrer Entwickelung den Charakter der Dunkelheit angenommen hatte, den wir in den Prophezeiungen und Bildern Secharja's antreffen.

Dennoch haben wir es hier wiederum mit zwei Gegensätzen zu thun, die sich scheinbar ebenso widersprechen, wie Freiheit und Gesetzmäßigkeit, denn auch die Individualität des Propheten spielt eine sehr bedeutende Rolle.

Es sind dieselben blitzartigen Wendungen, die wir im kan bei der Inter­pretation der Halacha begegnen. Scheinbare Antinomien, in Wirklichkeit Antithesen des Gedankens, die sich wieWendeltreppen" in immer höhere Regionen des positiven Agnostizismus erheben. Wir sind übrigens auf dem scheinbar so einfachen und glatten Boden des Schriftwortes bei genauerer Einsicht auf dieselben angewiesen.

Als allgemeine Regel für die individuelle Befähigung für die Prophetie formulirt der Talmud Nedarim 38 die Postulate: Weisheit, Kraft, Reichthum, Deiuuth; Sabbath 124 wird noch hinzugefügt kaal kainaU, d. i. imponirendes Aeußere und Wuchs, worunter, wie kan nachweist, wirklich rein physische Vorzüge zu verstehen sind, da nur in einem gesunden Körper eine gesunde Seele wohne, und sorgenlose Unabhängigkeit von der Außenwelt eine unabweisbare Voraussetzung bildet, wie auch Weisheit im Umgänge mit der Menge, da nicht nur die Prophetie, sondern auch die Lehre nicht ohne Weiteres zu Markte getragen werden soll. So heißt es in Mo öd Katan 16: Als R. Chija seinen zwei Brüdern auf der Straße einen Lehrsatz aus dem Bethhamidrasch mittheilte und R. Juda Hanassi dies erfuhr, wurde er auf 30 Tage vom Lehrhause ausgeschlossen. Ebenso gehört Körperkraft zur Ertragung der geistigen Anstrengung und Energie gegenüber der Menge, ebenso