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Die Einbildungskraft, sagt kau, kann sich mit diesem Verhältnis nich befreunden, aber der Verstand findet darin nichts, was mehr absonderlich wäre,
als die Behauptung, daß die Welt um Tausender oder Millionen unbedeutender
Individuen willen erschaffen sei.
Einen Parallelismus zu dieser Sentenz liefert Carlyle, der die Behauptung aufstellt, daß ganze Völker und Generationen ihr Dasein nur dem Zwecke verdanken, eine besonders hervorragende Persönlichkeit hervorzubringen. Und was für die naturhistorische Entwickelung der Menschengeschlechter Geltung hat, gilt in weit höherem Maße für den religiösen Standpunkt.
Wenn nun, sagt Run, der Verstand dies begreift und die Fähigkeit in
sich verspürt, seinen Geist hoch über die Maßen zu erheben und sich dennoch von
seinem Körper in den Staub der niedrigen Begierden ziehen läßt, wie das Vieh zum Grase, so giebt es keine größere Thorhcit und Blindheit. Auch gilt der Einwand nicht, daß dazu besonders große Anstrengungen auf dem Gebiete der Gelehrsamkeit und die vollkommenste Beherrschung aller Felder der Thora nöthig sei. Das ist nicht wahr. Denn obwohl das Studium sehr hoch steht und seine Vernachlässigung imnachsichtiger gestraft wurde, als die schwersten Sünden, so sagen unsere Weisen, daß Derjenige, der Körper und Seele für Gott hinzugeben bereit ist und die wirkliche Sehnsucht hat, ihm zu dienen weit höher steht als der größte Gelehrte. ^'2 NQN-!. „Gott will das Herz."
Ebenso sind die Handlungen die Hauptsache, aber nicht um ihrer selbst, sondern um der Herzensabsicht willen, die in sie hineingelegt wird. Wer in inniger Verbindung des Herzens mit Gott ganz gewöhnliche, weltliche Handlungen vornimmt, wie es die Erzväter beim Weiden ihrer Heerden, beim Bestellen ihrer Felder thaten, der dient Gott vollkommen. Wer sich zu dieser Höhe des Gedankens nicht aufschwingen kann, auch wenn seine Lippen Gebete murmeln oder sonst werkthätig vorgeschriebene Handlungen nachthun, auch wenn er das für Gottesdienst hält, ist er in gewissem Grade doch als k1"1QO „Abtrünniger" zu betrachten. Hierin liegt der große Jrrthum der Menge, die nur auf Aeußerlichkeiten sieht. Ebenso beantwortet Hippokrates die Frage, warum die Menge nicht den guten Arzt von dem Kurpfuscher zu unterscheiden weiß, damit, daß die Handlungen und Gebräuche Beider gleich seien, der Unterschied nur in dem geistigen Verständniß und dem richtigen Blick für die zeitgemäße Anwendung liege, für welche der Menge das Verständniß abgeht. Dasselbe Verhältniß herrscht bei dem Gegensätze der Sünde. Der sündhafte Gedanke ist viel schlimmer als die That (Joma 29). Der iUorell erklärt dies damit, daß der Frevel im Gedanken den edelsten Theil des Menschen ergreift, wahrend der bloß nur mit dem Körper verübte Frevel nur den niedrigsten angreift. Ich glaube, sagt kau, noch hinzusügen zu sollen, daß die Verderbniß des Gedankens eine fortwährende Wiederholung der körperlichen Vergehen, ohne die Möglichkeit der Rückkehr und Unterlassung, nach sich zieht, wobei die verschiedenen Gattungen der Frevler entstehen, unter denen die Atheisten die niedrigsten sind, da sie durch unausgesetzte sündhafte Thatm dazu kommen, Gott überhaupt zu leugnen, sodaß David (Ps. 14) von ihnen sagt: „Der spricht in seinem Herzen, es giebt keinen Gott." Andere kommen nur dazu, die Vorsehung zu leugnen, wie sie David beschreibt: „Warum lästert der Frevler und spricht in seinem Herzen, Du kümmerst
Dich um nichts?" Die Dritten leugnen das Walten der göttlichen Gerechtigkeit, Lohn und Strafe. So wird der Gedanke zur Quelle eines alle Gebote und Verbote verhöhnenden Frevels, während die Handlung sich auf eine einzelne, einmalige Uebertretung beschränken kann. Diesen Hauptgrundsatz des Judenthums hat Mendelssohn aus den Angeln zu heben versucht durch Aufstellung des Satzes, daß