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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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in das Gegentheil verwandelt werden können. Um nur eins anzudeuten, stellt er z. B. (. Krakau, S. 44) die Forderung auf, daß auch die Frau verpflichtet sein sollte, Schaufäden zu tragen, und sucht dieselbe gegen allp nur denkbaren Einwände zu behaupten. Nachdem der Frager das Feld behauptet hat, wird der wahre Grund der Befreiung der Frau von jenem Gebote nach den Grundsätzen der Kabbala sestgestellt. Und so geht es bei allen übrigen Geboten.

Die dringende Nothwendigkeit, welche diesen außerordentlichen Mann zu dieser Art Controverse gezwungen hat, erklärt sich durch die Verhältnisse einer Zeit, von der wir uns kaum eine hinreichende Vorstellung machen können. Den Tausenden von heroischen Märtyrern, Greisen und Männern, Frauen und Kindern, die sich für ihren Glauben opferfreudig hinschlachten ließen, stand nämlich eine große Anzahl solcher gegenüber, die als ^iiu88lin zwangsweise entweder im zarten Kindcsalter ihren Eltern entrissen oder aus Schwäche, den grausamen Prüfungen zu wider­stehen, den Glaubenswechsel scheinbar mitmachten, mit Haß und Verachtung gegen ihre Zwingherren im Herzen. So kommt es, daß er bei der Erklärung der Eheschließung die Frage, warum die Kidduschin eines Abtrünnigen, der Götzen dient, nach dem Talmud gesetzliche Geltung haben sollen, folgendermaßen beantwortet: Mein Sohn, ich rufe Himmel und Erde zum Zeugen an, daß es keinen Renegaten giebt, der nicht im Innersten noch an dem alten Glauben hängt und nicht zuweilen Gewissensbisse empfände, auch wenn er äußerlich den fremden Kult mitmacht, indem er sich von seinen bösen Trieben Hinreißen läßt. Freilich hat es auch bösartige Elemente gegeben, die, von fremdem Ursprünge aus dem Organismus ausgestoßen, die schlimmste Feindschaft in den schändlichsten Verbrechen bethätigt haben, aber das sind Ausnahmen von der Regel (S. 195).

Zwischen diesen Extremen von heroischer Treue und feigem Abfall gab es nun noch eine Schicht indifferenter Materialisten, deren Gesichtskreis nicht über die Bedürfnisse des täglichen Lebens in mittelalterlicher Rohheit und Ungeschlachtheit ohne Hang und Fähigkeit zum Studium hinausreichte, wie auch uureife Schüler, deren Zukunft noch unbestimmbar war, die sich die rohen Sitten und Tollheiten der Skolaren angeeignet hatten, namentlich in Zeiten verhältnißmäßiger Ruhe, wie die Verordnungen des Rabbenu Tam gegen diese Mißbräuche beweisen. Jene ^nuWim waren an den Höfen, selbst in den Kreisen der Mönchsorden, in den einflußreichsten Stellungen zu treffen und halfen nicht selten, die finstersten Anschläge gegen die Juden vereiteln. Religiöse Disputationen zwischen Juden und Mönchen waren an der Tagesordnung, nur den rohen, wüsten Schimpfereien der Letzteren gegenüber waren auch die Elfteren nicht verpflichtet, sich Zwang aufzuerlegen, namentlich im Mittelalter, das keine Prüderie kannte und die stärksten Ausdrücke als etwas Selbst­verständliches hinnahm. Die Diskussionen drehten sich natürlich meistens um den Talmud, der den Renegaten geläufig war. Fürsten und Könige nahmen lebhaften Antheil und entschieden über den Ausgang des Wortkainpfes. Die Rabbinen mußten die Angriffsweise mit allen Gehässigkeiten kennen, um dieselbe pariren und schlagfertig abweisen zu können, und so finden wir sie auch beim Verfasser in der ÜLMWafi wieder. Außerdem hatten im polnischen Osten die Karaiten die Oberhand, wie aus R. Mose Taku's X'tnb Tniniin hervorgeht, die den Handel von Byzanz aus bis an die Ostsee beherrschten, und erst durch den Zusammenbruch des griechischen Kaiser­thums, die Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 und die dadurch entstandene Aufhebung des Zwischenverkehrs scheint der Niedergang der Karaiten seine Beschleunigung erhalten zu haben. Auch gegen diese hatten die Rabbiner Kämpfe zu bestehen, die mit großer Erbitterung geführt wurden. Daher die Ausdrucksweise, die auf nervöse Schwächlinge schon durch die bloße Art der Fragestellung erschütternd