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schlachtet und es nicht an das Thor der Stiftshütte bringt, um es als Opfer darzubringen dem Ewigen vor der Wohnung des Ewigen, dem soll es als Blutschuld angerechnet werden, als hätte er Blut vergossen, und es wird derselbe abgeschnitten werden aus der Mitte seines Volkes." Daher die vielen Erschwerungen, die sich unsere Weisen auferlegten beim Genüsse von Fleisch, das nur einen Augenblick der Aufsicht entzogen war. Siehe den großen R. Juda Hanaßi! Ihn schützte seine Weisheit nicht vor Qualen, die über ihn kamen, weil er ein Lamm, das vor dem Schlächter sich unter sein Gewand flüchtete, ohne Mitleid mit den Worten zurückstieß: Geh, denn du bist zu diesem Schicksal geboren (S. 269). Daran soll sich der rohe Mensch das Beispiel nehmen, nur unter strengster Beobachtung der rituellen Vorschriften Fleisch zu genießen, denn er ist dazu bestimmt, die niedere Rangstufe des Thieres durch menschlichen Genuß zu einer höheren zu erheben. Wie aber, wenn das Thier mehr Verstand hat als der Mensch? Warum erkennt der Ochs das Blut seiner Gattung und scheut vor dessen Anblick (oder Geruch) zurück, ebenso das Schaf und die Ziege (S. 284)? Man hüte sich daher, ungelehrte und unwürdige Schächter anzustellen und zweifelhafte rituelle Fragen leichtfertig zu entscheiden. Wenn man im Talmud zuweilen schwankende Ansichten und Erleichterungen findet, so sind dieselben keineswegs für die Praxis gesprochen. Sie haben vielmehr zuweilen durch theoretische Ausspruche den lauernden Feinden Platz gelassen, ihren Hang zum Abfall zu befriedigen; aber zur Zeit der Macht und geordneter Verhältnisse haben die alten Lehrer die äußerste Strenge auf Haaresschärfe angewendet (S. 259). Ganz in demselben Sinne sagt der Talmud: Solange das Heiligthum bestand, versöhnte der Altar für den Menschen. Heute hat der Tisch die Stelle des Altares eingenommen, und schon der Prophet Ezechiel nennt (41, 22) den Altar „den Tisch vor dem Ewigen." So sagt auch llaug. äobs Lila: „Statt daß du betest, es soll die Lehre in deinem Munde Platz finden, bete lieber, daß keine verbotenen Speisen in demselben Platz finden." Das Jndenthum sucht eben seine Ideale nicht in schillernden Phrasen, die aus salbungsvollem Munde kommen, sondern ist vorerst darauf bedacht, daß der Mund dem Herzen keine Unreinheit zuführe: dann finden die Ideale von selbst in demselben ihren geeigneten Platz, dann kann der Mensch sich über das Thier erheben und sein Gebet als wohlgefälliges Opfer gen Himmel senden.
Ganz in diesem Sinne hat der Chaßidismus dem Tische und seinen rituellen Vorschriften den hervorragendsten Platz in der Erhaltung der religiösen Gemeinschaft eingeräumt und dem Schächter ebensoviel Aufmerksamkeit zugewendet als dem rituellen Dajan oder Rabbiner. Hingegen hat außerhalb dieser Kreise eine Vernachlässigung dieser wichtigen Funktionen platzgegriffen, welche am allermeisten zum Verfall aller jüdischen Institutionen beigetragen hat. Ein eklatantes Beispiel, wie weit diese Vernachlässigung geht und wie fremdartig die Verhältnisse zwischen Ost und Süd, sagen wir, geworden sind, will ich, ohne Namen zu nennen, anführen.
Eine 70 jährige Matrone, Frau eines großen Chaßidimrabbis, traf in Franzensbad im Hotel einen Nachbar, eine Säule der ungarischen Orthodoxie, und war überglücklich, Tag und Nacht das unermüdliche Studiren des Rabbiners durch die Wand mit auzuhören. Selbstverständlich hatte sie ihren eigenen Schächter mit, der gleichzeitig ab und zu ihre in einem angrenzenden Badeort weilenden Enkel versorgte. In seiner Abwesenheit sandte sie um den Schächter des Nachbars, von dem sie anuehmen mochte, daß er in jeder Beziehung ein wahrhaft Frommer war. Zu ihrer Ueberraschung kam ein junges, mit mondsichelförmigen Schnauzbarthörnern ausgestattetes Bürschlein, das ihr liebevoll die Hand reichte und, um. die Bekanntschaft zu fruktifiziren, drei Photographien junger Mädchen vorlegte, mit der Bille, ihm eine derselben als Braut auszuwählen. Ländlich, sittlich! Ebenso beklagt sich Jaavetz in seiner Selbstbiographie, daß ein reicher Kultusvorsteher in Hameln, wenn ich