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Seele und der Zusammensetzung ihrer seelischen Organe im Mikrokosmos wiederfinden und entziffern lassen. Dieser Lehrer hatte es übernommen, die Verheißung Jeremia's (31, 33) zerr Wirklichkeit zu machen: „Ich werde Meine Thora in ihr Inneres geben und auf ihr Herz werde Ich ffie ausschreiben." Aus der Wissenschaft wird eine Kunst, die um so edler und erhabener ist, als sie nicht in gefallener Entartung ihre Thätigkeit außerhalb des Subjektes in kleinlicher Spielerei in todtes Gestein verlegt, sondern die Seele selbst als bildnerischen Stoff verwendet.
Der Reichthum kombinirten Denkens, den der talumdische Scharfsinn früherer Jahrhunderte vorbereitet, der sich in paralleler Entwickelung auch in den modernen Fachwissenschaften mit unabweislicher Nothwendigkeit eingestellt hat, ist hier mit ungeahnter Kraft auf das religionsphilosophische Gebiet übertragen. Als Facit der geistreichsten Kombinationen erscheint dabei immer wieder die Beweisführung, daß die Halacha als Ausdruck des höchsten Willens die Krone des ganzen Gebäudes bildet, die über aller Philosophie und Mystik ebenso viel höher steht, als Wille und Wonne (letztere als eigentliche Seelensubstanz, deren Thätigkeitsüußerung im Willen auftritt), weit über das Denk- und Gefühlsvermögen der Seele erhaben sind.
Das Leitmotiv dieses chabadäischen Systems, wie aller ihm verwandten chaßidischen Systeme, ist die Erhaltung der Thora, von welcher der Balschemtow am letzten Jom Kippur vor seinem Tode gesagt hatte, daß die das Jndenthum bekämpfenden Kräfte im Begriffe seien, ihm dieselbe zu entreißen. Damals (1761) wußte man die Tragweite seiner Worte noch nicht abzuschützen. Es ahnte Niemand, wie weit dieses Vorhaben für den Occident von Erfolg begleitet sein sollte. Das ganze Mittelalter war ein ununterbrochener Religionskrieg gewesen. Rom, Byzanz und Mekka gefielen sich in der Rolle Jerusalems. Keines von ihnen vermochte dem Judenthum das heißumstrittcne Panier zu entreißen. Der Verfall der gräco- romanischen Rasse ließ die geknechteten Germanen in der Reformation das Haupt erheben, welche die blutigsten Religionskriege entfesselte, welche die Welt je gesehen. Es erfüllte sich die Prophezeiung Jeremia's (51, 68): „Die Völker kämpfen um Feuer und ermatten." Der religiöse Funke, der alle diese Brände entzündet, das religiöse Phlogiston — um ihm einen Namen zu geben — hatte seine Wirkung gethan und war verflüchtigt aus der Volksseele verschwunden. An ihre Stelle trat der Kamps gegen die Religion. Der von den Kardinälen Retz, Mazarin, Richelieu, Louvois großgezogene Atheismus, diese fressende Syphilis des Geistes, hatte auch das, wie Lessing es nennt, französirte Berlin ergriffen. Dazu trat ein Ereigniß, dessen erschütternde Tragik Voltaire und Goethe um den letzten Rest ihrer Gläubigkeit brachten: das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1765, dem dem jüdischen Versöhnungstage nachgebildeten Allerseelenfestc. Die Gewässer des Ozeans und des Tajo stauten sich Mauern gleich zu Bergeshöhe, brachen dann über die Stadt und begruben 30000 Einwohner, die - in den Kirchen versammelt waren, unter den Wellen, während wiederholte Erdstöße keinen Stein aus dem andern ließen. Ein derartiges Strafgericht, wie einst über Sodom und Gomorrha, durfte nicht geduldet werden. Wenn auch die Scheiterhaufen noch rauchten, auf denen Greise und Kinder, blühende Jünglinge und Jungfrauen, weil sie den Glauben ihrer Väter nicht abschwören wollten, zum Gaudium des Pöbels unter langsamen Martern im Namen der Liebe verbrannt worden waren, so durste, wie der decadente Jean Jacques Rousseau ausführt, doch nur eine Vorsehung anerkannt werden, die blindlings allen Trieben der Menschen ihren Segen spendet. R. Abraham Galanti schildert im Xoi IlocRirn zum Klageliede die Autodüsös in Portugal und die blasphemischeu Verhöhnungen, mit welchen den Märtyrern zugerufen wurde: Soll Euch Euer