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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Ein Rivale blieb ihm in der Person des R. Hirsch Elimelech von Dynow, ebenfalls Schüler des R. Mendel Rymanower und zugleich des Sehers von Lublin. Auch ihn hatte der Ropczycer Rabbiner anfangs und auch ohne Erfolg zu unter­drücken versucht. Dieser große Gelehrte gehörte zu dem Kreise der bekehrten Talmudkoryphäen, ein Amalgam der alten und neuen Richtung. In seiner Jugend hatte er sich viel mit der alten spanischen Scholastik befaßt, hatte auch denPhaedon in hebräischer Uebersetzung gelesen. Die Beunruhigung und die Schwankungen, welche diese Litteratnr bei jungen Leuten hervorruft, ließen ihn im Chaßidismus den sicheren Ankerplatz finden, von wo aus er sich mit Feuereifer die Bekämpfung der Neologen und der auf Grund der alten Scholastik aufgebauten seichten Mendelssohn'schen Aufklärerei als Hauptaktion vorgenommen hatte. Als Beherrscher des ganzen Talmud­gebietes und der Kabbala mit allen Ehren ausgenommen, hatte er Gelegenheit genug, als Asketikcr im angestrengtesten Dienste auch höhere Fähigkeiten zu erwerben, mit deren Verleihung namentlich der Seher von Lublin nicht kargte. Aber er blieb doch immer nur Rabbiner zweiten Ranges; seine Thätigkeit war eine mehr litterarische, die als Selbstgespräch sich zu dem lebendigen Gedankenaustausch des Chaßidismus verhält, wie das Manöver zur Schlacht. Außerdem fehlte ihm die Fühlung mit der durchaus veränderten Taktik und Neubewaffnung des modernen Zeitgeistes, durch die sich der Chaßidismus auszeichnet, und die gründliche Kenntnis; der alten Philosophie, die er flüchtig und mit Widerwillen kennen gelernt hatte, sodaß ihm in seinem Commentar zum Or knoknjim von R. Josef Jabez (1493), den er- Onniin titulirt, manche Schnitzer passirt sind.

Trotzdem aus seinen Erlebnissen bei den großen Lehrern recht interessante Erinnerungen in seinen zahlreichen Schriften verstreut sind, tadelte mein seliger Lehrer seine Vielschreiberei. Sein Anhang und Leserkreis rekrutirte sich hauptsächlich aus Ungarn, wo er in Munkacs einige Jahre lang das Rabbinat bekleidete. Jedenfalls ist nachgewiesen, daß er ein bedeutender Mann war und über das Niveau des ge­wöhnlichen Gelehrten hoch emporragte, aber kg.8ok1o86kk>. Io kn, wie es bei der Rangordnung des davidischen Generalstabes heißt. Es ist daher begreiflich, daß er die geistige Ueberlegenheit des ungelehrten Dieners seines Lehrers nicht mit Gleich- muth ertragen, obgleich er nach zweimaligen Versuchen einer leisen Anrempelung sich bald veranlaßt sah, um Verzeihung zu bitten. Die merkwürdige Ueberlegenheit des R. Hirsch manifestirte sich bei einem Besuche, den er alljährlich zur Fahrzeit des R. Mendel (19. Jjar) oder, wenn er verhindert war, am Sabbath vor Schabuot abzustatten pflegte. Bei einem solchen letzteren Falle beehrte ihn R. Hirsch damit, bei Tisch Thora zu sagen. R. Hirsch Elimelech hatte die Gewohnheit, sich eine Stelle aus dem Talmud oder Midrasch vorsagen zu lassen, auf die er daun eine im- provisirte Abhandlung folgen ließ. R. Hirsch sagte ihm einen Vers aus dem Siddur, aus ^8okr6, vor: Xokoä mnlekutokn .jornoi'u n^vurntcknfeänkern. Der Gast knüpfte daran eine großartige Derascha aus Talmud, Sisra und Sifri, Kabbala und Ez Chajim. R. Hirsch bemerkte später lächelnd zu seinen Leuten:Es ist merkwürdig, daß ein Gelehrter, vor dem die ganze Thora offen liegt, mich nicht verstanden hat." Es war der vierundvierzigste Tag des Omerzählens, mit welchem in dem kabbalistischen Schlußgebete die gekirn Ookurn 86 k ei mnlekut korre- spondirte. Daß dieselbe in diesem Verse zu finden sei, hatte der Schriftgelehrtc nicht beachtet. Für den Sachkenner ist der Vorgang besonders charakteristisch als einer der Grundaxiome des Chaßidismus, den Augenblick zu erfassen. So sagt R. Meir Apter in Or InsekÄinnMr zu dem Verse (2. B. M. 18, 26)Sie sollen das Volk richten zu jeder Zeit": Der Unterschied zwischen Zaddik und Lamden liegt darin, daß Ersterer die Thora in ihrer lebendigen, jeden Tag und jeden Augenblick neu be­herrschenden Wirksamkeit erfaßt. Wie der Lainden hingegen die Thora behandelt,