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Gebet mir einen Gelehrten, ich möchte ihm einen Eselsbiß versetzen, der den Knochen zerbricht. Aus dem Volke hervorgegangen und zum Oberhaupt aller Gelehrten geworden, konnte er im Freiheitskriege gegen Hadrian daher seine Brüder mit sich fvrtreißen. Umgekehrt finden wir seitens der Gelehrten sehr strenge Benrtheilungen gegen die niederen Ungebildeten. Die Begründungen, die dafür gegeben werden, bieten zwar genügende Rechtfertigung, denn die bloße Angehörigkeit zur selben Nationalität darf gegen Ausschreitungen nicht blind machen. Aber im Grunde genommen sind die Führer dafür verantwortlich, denn es giebt weder ein gutes noch ein schlechtes Volk, ebenso wenig wie es gute oder schlechte Soldaten giebt. Alles hängt von der Erziehung und den Führern ab. Dagegen giebt es äußere Einflüsse von elementarer Gewalt, welche den Kontakt zwischen Volk und Führern stören, und nur diese Einflüsse sind Hassenswerth, aber nicht die Individuen. Es sind Krankheitszustände, welche die Organe ein und desselben Körpers in Gegensatz zu einander bringen Freilich giebt es dabei Bacillen, die als fremdartige Eindringlinge bekämpft und entfernt werden müssen. Das Problem ist daher wegen seiner Komplikation nicht so einfach zu lösen.
Nun bot namentlich der unter Kampf und Haß entstandene Chassidismus Gelegenheit zu separatischen Gelüsten. Das Wort 1'VN kommt nur ein einzigesmal in der Thora vor (V, 33,8): -s-PON der zu Vater und Mutter sagt: ich
habe sie nicht gesehen, seine Brüder nicht kennt, von seinen Kindern nichts wissen will; denn sie (die Leviten) hüten dein Wort und wahren deinen Bund. Es liegt daher für den Egoismus des Frommen die Versuchung zur Absonderung und Menschenverachtnng besonders nahe. Wir haben bereits eine Aeußernng des R. Uri Strelisker über Führer citirt, die unbewußte seien. In den ersten
Ausgaben findet sich eine später eliminirte Bemerkung, wo er sagte: Es werden sich Rebbes einfinden, die vollständige Antisemiten sein werden. Und man hat manchem frommen Gelehrten den Beinamen „der fromme 8)12'" gegeben.
Es gehört somit die ganze Kraft der Toleranz und der Liebe wahrhaft erleuchteter Geister dazu, um jenen Titel voll und ganz zu verdienen. Ein Beispiel unter unzähligen anderen: Unter den Tausenden, die jahraus, jahrein bei R. Hirsch vorsprachen, kam auch ein Schnorrer aus Großpolen, der seinen Zettel abgab, wie es Sitte ist, und dann seinen Weg fortsctzte. Er ging nach Ungarn. Zwei Jahre später kan, seine Frau aus Großpolen, die, da er verschollen war, seine Spur nach seinen Briefen verfolgt hatte. In Ungarn hatte sie erfahren, daß ein Mann, ans den die Personalbeschreibung paßte, auf der ungarischen Grenze wegen Paßlosigkeit beanstandet und von den rohen Panduren zu Tode mißhandelt worden war. Diese Anhaltspunkte genügten jedoch nicht, um einen Heirathsdispens (Uotter .-V^nrin) für sie zu erwirken. Sie kam daher nach Rhmanow, um Rath beim Rabbinatsgerichte (Besdin) zn suchen. Als sich die Mitglieder desselben beim R. Hirsch einfanden, eröffnet«: er das Mischnajoth und nahm den Zettel des Verstorbenen heraus, den er unter Tausenden zurückgelegt hatte, und zeigte ihn den Dajanim, ob sie vielleicht darin Anhaltspunkte finden könnten. Als dieselben ihre Verwunderung darüber nusdrückten, daß er gerade für diesen Mischnajoth gelernt habe, antwortete er: Wer denn soll sich eines solchen Verstoßenen annehmen, wenn nicht ich? — Aber er wußte auch die Grenze einzuhalten, bei welcher die Liebe aushvrt. Unter den vielen Armen, die an seinem Tische aßen, kam in der ersten Nacht des Sukkoth- festes ein Fremder an den Tisch. Er erhob sich von seinem Sitze, ging auf ihn zu, und in einem Zorne, wie man ihn noch nie bei ihm beobachtet hatte, fuhr er ihn an: „Du Roscho, Du willst bei meinem Tische essen? Hinaus!" Der Mann lief hinaus; man suchte ihn, um zu wissen, was mit ihm los sei, aber er hatte