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und gleichzeitig die, wie er betont, göttliche Weisheit der Kabbala aus den Finsternissen des Golns wieder in ihrem alten Glanze erstehen zu lassen.
Die Tragweite dieses Systems haben die Massen zwar nicht zu würdigen gewußt, — Verstand ist stets bei Wenigen nur gewesen — aber es kennzeichnet den Kurs, in welchem die Meisterhand das Schiss steuert. Ein wirklicher Volksleiter, der die große Masse zu beherrschen und jedes einzelne Individuum durch den Zauber seiner Persönlichkeit an sich zu fesseln versteht, der kann und darf nicht Schulmeister spielen und als Melammed von der Höhe seines Jdeenkreises in den Kleinhirnstand des Hörers hinabsteigen, der ihn viel leichter zu sich hinabzieht, als Aussicht da wäre, jenen zu sich hinauf zu heben.
Seine 32 jährige Herrschaft bildet den Glanz und Höhepunkt in der Geschichte des Chaßidismus, der in ihm das angesehenste, würdevollste und allgemeine Anerkennung genießende Volksoberhaupt hervorgebracht hat. Von den berühmten Führern in Galizien war nur R. Scholem Rokeach übrig, dem während der vier Jahre 1851—1855 die Massen zuströmten.
R. Abraham Jakob nannte R. Scholem, obwohl er ihn persönlich nicht kannte, eine wörtlich: „das vollendete Individuum", d. h. einen
Mann ohne Fehler vom Scheitel bis zur Sohle. Er verglich ihn sogar hinsichtlich des Kol-nidre-Gebetes mit Keduschas Levi. Je mehr die Reformer und Fortschrittler durch Denunciationen und Hetzereien bei der Regierung den Chaßidim zu schaden suchten, die Reisenden durch Paßplackereien und Verfolgungen durch antisemitische Beamte belästigten, desto reizvoller erschien diesen die verbotene Frucht. Ein Bezirkshauptmann citirte einst den alten R. Scholem Rokeach vor sich und sagte ihm: „Wissen Sie, daß ich der zweite Haman bin?" R. Scholem antwortete: „Der erste hat auch kein besonderes Glück gemacht." Dem Beamten imponirte der Ernst des Rabbiners, so daß er ihm versprach, die Verfolgungen einzustelleu. In demselben Maße, als die Reformer Tag und Nacht ihr Sinnen und Trachten darauf richteten, wie die Massen zum Abfall von der Religion ihrer Väter zu bringen seien, verlegten die Chaßidim ihr ganzes Sinnen und Trachten auf die Erhaltung derselben. Der Philisterstand, dessen einziges und höchstes Ideal „das Geschäft" war, wurde zwischen diesen zwei Mühlsteinen vollständig aufgerieben.
Nach dem Ableben des R. Scholem gingen die besten jungen Leute, die Anhänger der früheren Rabbinen, darunter Hunderte tüchtiger Talmudgelehrter und die feinsten Köpfe zn R. Abraham Jakob Friedmann über.
Ebenso kamen sie aus Kongreßpolen, dessen vornehmste Rabbiner zu den Anhängern seines Vaters zählten, wie R. Isaak von Warka (Nachkomme des R. Abraham Galanti aus Safed 1570). Selbst R. Isaak Mcir von Warschau hatte die weite Reise zu R. Israel nicht gescheut, nachdem er als Intimus des Kotzker Rabbiners den Schifsbruch seiner Gewaltherrschaft aus nächster Nähe mitangesehen hatte. Die Söhne und Enkel der Rabbiner aus der alten Lubliner Schule kamen fast alle, um R. Abraham Jakob ihre Ehrfurcht zu bezeugen. In Rußland, wo die Herrschaft des R. Mordcha Czernobieler auf seine 8 Söhne übergegangen war, erkannten auch diese dem Adel und der Gelehrsamkeit des Rabbiners von Sadagora den Vorrang zu, mit dessen Haus sie übrigens eng verwandt und vielfach verschwägert waren.
So verwirklichte sich der Plan seines Großvaters R. Scholem Pvhorobystcr in der Schaffung einer leibhaftigen Exilarchenwürde. Den inneren Feinden des Judenthums war diese unerwartete Machtentfaltung religiös-nationalen Volkslebens mit fürstlichem Hofstaate, prachtvollen Synagogen, tadellos würdevollem Gottesdienste ohne Exaltation und Ekstase, vollendetem Anstande und imponirender Eleganz inmitten