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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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Dem Einfluß so gewaltiger Persönlichkeiten gegenüber,wie die drei obgenanntc^ mußte R. Chaim also sein Programm in die Tasche stecken. Es kam eine neue Springsluth mit dem Jahre 1848 mit außerordentlichen Veränderungen, dann solgte wieder eine Abspannung, die neuen Meteore verschwanden vom Firmamente, und in konstanter Fühlung mit dem Parallelismus der Außenwelt trat abermals die Reaktion auch hier in ihre Rechte. Der Mann sah seine Zeit gekommen.

Seine strategische Position war vorzüglich gewählt. Er hatte seinen Wohnsitz am äußersten Ende des altpolnischen Jndenlagers an der Grenze nach Ungarn und dem Westen zu, nach Neusandez, einem Karpathenstädtchen Westgaliziens verlegt, fern von dem lebhaften Kampfgewühl der neuen Parteien in Kongreßpolen, ebenso wie vvn dem Zentrum des Chaßidismus im Osten. Inmitten einer über die Gebirgs- dörfer zerstreuten jüdischen Bevölkerung schlichten Charakters, bei äußerster Genüg­samkeit bieder und gastfrei, mit einem Anflug von Kretinismus, wie er im Hoch­gebirge heimisch ist, folgsam und leicht zu beherrschen. Jenseits der 2 Meilen entfernten ungarischen Grenze das ausgedehnte Karpathengebiet, das dem Chaßidismus huldigte und zur Zeit vollständig führerlos war. In Westgalizien selbst, in den großen Ghetto's, eine vor der Destruktionswuth der Reform in das Lager des ver­haßten Chaßidismus flüchtende Bevölkerung, welcher der denselben Motiven ent­stammende neue Wunderrabbi als der richtige Retter in der Noch erschien. Seine Gegnerschaft gegen die deutsche Reformsekte war eben so ernst als energisch. Einst in dem Städtchen Podgorze bei einem angesehenen gelehrten Reichen, R. Ber Schmidt zu Gaste, fand er in dessen Bücherschrank ein Chumesch mit demOk886r" d. h. dem Biur und der Uebersetzung Mendelssohn's. Er riß es in Stücke und warf dieselben zur Erde, nach der Vorschrift über ein Sefer Tora, das ein Min geschrieben.

Weniger geräuschvoll aber nicht minder energisch sprach sich R. Abraham Jacob Friedmann in Sadagora über Mendelssohn's Chumesch aus. Er erzählte

vom X6än8oiM8 üavi, daß derselbe einmal ein Schlußfest (Ligunr) gefeiert

habe, ohne daß dabei wie gewöhnlich ein Traktat beendigt worden wäre. Befragt, erzählte er, er wäre zu einer öritU iniinU aufs Land geladen worden und habe während der Pause im Bücherschrank des Wirtes geblättert. Da sei ihm Mendelssohn's Chumesch in die Hände gefallen, und weil er es eingesehen, habe man ihn als mi8tniL6l 80 ro behandelt, wie Jemanden, der ein Götzen­

bild betrachtet, dessen Gebete 40 Tage lang unerhört bleiben. Heute seien die 40 Tage uni, daher die Feier.'

Diese Energie des Auftretens seitens eines Rabbiners, welche von der in den Kreisen seiner Amtsgenossen eingerissenen Lauheit, Gleichgültigkeit gegen die alles zerstörende Reform und der Liebäugelei mit derselben so grell abstach, ließ ihn in den Augen der führerlosen Mittelpartei als den Retter der bedrohten Orthodoxie erscheinen, ohne der Koutrereform, als welche man die neue Organisation des

Chaßidismus erkannt hatte, weitgehende Konzessionen machen zu müssen, die als

neue Erscheinung gegenüber den alten Verhältnissen der Ghettozeit immer noch mit Mißtrauen betrachtet wurde. Man kann nicht sagen, daß der Rabbiner dieses Vertrauen während seiner langjährigen und ausgebreiteten Wirksamkeit nicht ge­rechtfertigt hätte. Wenn er, wie fein Zeitgenosse, der ebenso sanftmüthige als durch große Gelehrsamkeit und unablässiges Studium berühmte R. Abraham von Ciechanowv m Großpolen, sich auf eine wohlwollende freundschaftliche Stellungnahme zum Chaßidismus und seine von Haus ans vorgeschriebene Richtung als Rabbiner alten Stils beschränkt haben würde, so wäre sein Wirken ein ebenso segensreiches gewesen. Aber sein ungestümes Temperament, ein nach berühmtem Vvrbilde organischer Fehler seines bis zur Unzurechnungsfähigkeit anfslammenden Jähzornes, den er oft genug bitter bereute, verbunden mit einer himmelstürmenden Herrschsucht