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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
Entstehung
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Das Gesetz hat eine wächserne Nase in den Händen des Gelehrten, - namentlich wenn derselbe sich mit dem Nimbus der Unfehlbarkeit zu umgeben weiß. Da stellten sich immer Gelegenhcitssentenzeu aus dem Ozean des Talmud ein, die das aufs Aeußerste verpönte insollow llorn mit dem Spruche rechtfertigen: Man darf Schlechtes reden von denen, die Spaltungen Hervorrufen. Spaltungen ries aber Jeder hervor, der sich nicht unter die Autorität des R. Chaim beugen wollte.

Schreiber dieses wollte im Sommer 1868 den Sohn und Nachfolger des so berühmten R. Schvlem von Belz kennen lernen. Gelegenheit bot dessen Aufenthalt zur Kur in dem benachbarten Lnngenkurort Szczawnica. Derselbe, R. Josua Rokeach, eine Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit, lag damals in bitterster Fehde mit dem Rabbi in Neusandez wegen der Besetzung von Rabbiner- und Schüchterposten, die von den Anhängern beider umstritten waren. Die maßlose Heftigkeit des Alten, ausgebeutet von einer ebenso rücksichtslosen als gewaltthätigen Camarilla, äußerte sich in Pamphleten und Plakaten (in Lemberg), mit Jnvektiven gegen den Rabbiner von Belz, die gar nicht wicderzugeben sind. Da derselbe zur Kur nach dem nahe Neusandez belegenen Karpatendorfe reisen mußte, so mied er den geraden Weg, der über diese Stadt führte, und nahm einen unwegsamen Umweg über Lontzk, welcher ans tausend Fuß hoher, schmaler Gebirgsstraße an Abgründen vorbei führt, so daß der im Wagen sitzende zu seinen Füßen nur den in der Untiefe schäumenden, reißenden Dunajec vor sich sieht. Der aufregende Anblick zwang den Rabbiner die drei Meilen zu Fuß hinter dem Wagen zurttckznlegen. Von einigen Freunden ans K. begleitet, die Anhänger seines Vaters und nach dessen Ableben, meines seligen Lehrers gewesen waren, verbrachte ich dort Lndimt NMekrnrr Nach dem Tische statteten dieselben dem R. Josua einen Besuch im Hotel ab. Er fragte sie: Wie hat der Rabbiner von Sandez euren Rabbi von Radomsk ausgenommen? Mit den größten Ehren­bezeugungen, die es nur giebt, war die Antwort. Darauf er: Seht, was für ein

Politiker er ist. (Er gebrauchte ein hebräisches Wort, in welchem ein Buchstabe sechs deutsche vertritt). Als er meinen seligen Vater zu besuchen pflegte, kam

er nach Tische immer zu mir. Da pflegte er über den Rabbiner von Radvmsk zu

raisonniren e»88ur leclndber (was nicht wiedergegeben werden kann), bloß weil er sich ihm nicht nnterordnen wollte.

Sobald er sich dazu entschloß (um das Feuer drohender Zwietracht der Massen zu ersticken), hob er ihn wieder in den Himmel. Psychische Defekte der Herrschsucht, die unbewußt im suggestiven Zwange eines Jenseits von Gut und Böse eine gewisse Entschuldigung finden. Der Angreifer ist in solchen Fallen

immer im Vortheil. Denn der wahre Choßid betrachtet das Heranstreten als

Führers der Massen in die Oeffentlichkcit als unerträgliche Bürde, unheilvolle Verantwortlichkeit und Angriffe als Fingerzeig, sich derselben so weit als möglich zu entledigen. Der Jüngste der drei Söhne des Lehrers von Lublin, R. Israel, hatte sich als Privatmann dem Gefolge des R. Israel Friedmann von Rougean an­geschlossen. Als Sohn eines so berühmten Mannes setzte man ihn bei Tische obenan.

R. Israel beehrte ihn mit demBenschen", indem er ihm den Becher zum Segenssprnche ans die Hand gab. Die Hand des Mannes zitterte aber so heftig vor Furcht, daß der Rabbiner den Becher dreimal wieder niederstellen mußte, bevor Jener die gehörige Fassung erlangt hatte. Da sprach ihn der Rabbiner au: Was fürchtet Ihr Euch so vor mir? Was bin ich denn? Ein niedrigster Mensch, ein 8oIr»1oI, ein Njin (Nichts). Glaubt mir, ich beneide den Juden, der seinen Dienst verrichtet,' ohne sich um die Welt zu kümmern, und von derselben unbeachtet bleibt. Was denn also? Dabei warf er den Kopf zurück, wie er bei vollständigem 11i8)w8ell1ri8 llnMscRmMiS zu thun pflegte, und sprach die Worte, die der als Muster der Bescheidenheit gefeierte Hillel vor versammeltem