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Der glaubensvolle Muth des israelitischen Volkshirten dem Murren seiner Gemeinde gegenüber : Predigt, gehalten in der Synagoge zu Schwerin am 29. Juni 1844 / dem Druck übergeben von Samuel Holdheim
Entstehung
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Volk nicht; fie müſſe zu einer geweihten Rede, zur Predigt ſich verwandeln. Das religibſe Leben iſt erkaltet, es müſſe wieder erwärmt, der religiöſe Sinn iſt geſchwunden, er müſſe wieder geweckt werden. Und wer ſoll all dieſe Wunderdinge verrichten? Ein Mann, der die Religion und ihre Anfor­derungen, der die Zeit und ihre Bedürfniſſe kennt. Dieſes noch dunkele Bewußtſein ſprach es alſo deutlich aus: man ſei krank, es müſſe ein Arzt herbeigerufen werden. Und als der gekommen war, da jubelte ihm Alles froh und hoffnungsvoll entgegen. Man glaubte, die bloße Erſcheinung des Arztes ſei hinlänglich, um die Krankheit ſchwinden, die Geſundheit wiederkehren zu laſſen. Als der Arzt aber den krankhaften Zuſtand aller Verhältniſſe ſchonungslos aufdeckte, als er den tiefern Sitz des Uebels, Blut und Säfte verderbend, nachwies

und von der Entſchiedenheit der Mittel zu reden anfing, durch

welche allein ein fo tief eingeniſteter Schaden wieder entfernt werden kann, da wollte man wieder kerngeſund fein und von Krankheit nichts hören. Und als er gar manche bittere Arzenei zu verſchlucken gab und dieſe ihre unruhige Wirkſam­keit im Schooße der Gemeinde begann, da haderte man mit dem Arzte und gab ihm allein die Schuld an der Krankheit. Waſſer wollten wir, um unſern brennenden Durſt zu ſtillen, und du gabſt uns Feuer, glühendes Feuer des Kampfes und der Zwiekracht. Beſſer wäre es, wir würden in unſerem alten Zuſtande des Friedens geblieben ſein, d. h. beſſer, wir würden mit ſo vielen unſerer Brüder in der Wüſte untergegangen ſein. In das Land der Verheißung ſollteſt du uns führen; dazu haben wir dich berufen. Aber du führſt uns einen weiten, beſchwerlichen Weg durch die Wüſte, wo wir bald mit dieſem, bald mit jenem Hinderniß zu kämpfen haben. Lieber wären wir in Aeghpten geblieben, als daß wir mit dem Schwerdte in der Hand unter ſo vielen Entbehrungen ein verheißenes Land uns ſelbſt erſtreiten ſollten.

Aber, m. J. F., iſt noch je ein Sieg ohne Kampf, Frieden ohne Krieg errungen worden? Sehet, wir ſtehen in einer Zeit der Entwickelung, des Ueberganges aus einem todtähnlichen

Schlafe in ein neuerwachendes Leben. Es ſind die Geburts­

wehen einer beſſern Zeit, die uns umrauſchen. Hat noch je eine Mutter ohne Schmerzen geboren? Nicht der Arzt iſt es fürwahr, der die Schmerzen herbeiführt, ſondern die Krankheit. Die Schmerzen, die wir empfinden, das iſt eben die zum Be­wußtſein gekommene Krankheit. Wir würden ſchneller geſunden, wenn wir Alle die Krankheit fühlten. An dem ſchmerzlichen Kampfe find großentheils diejenigen Schuld, welche die Krank­heit leugnen; Diejenigen namentlich, die lieber Glied für Glied