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Der glaubensvolle Muth des israelitischen Volkshirten dem Murren seiner Gemeinde gegenüber : Predigt, gehalten in der Synagoge zu Schwerin am 29. Juni 1844 / dem Druck übergeben von Samuel Holdheim
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der doch ein Gottesgelehrter ſein ſoll, zu der Ueberzeugung gekommen iſt, daß dem und jenem veralteten Brauch eben deßwegen die wirkſame Gotteskraft fehle, weil die religibſe Idee, die ihm einſt inwohnte, die allein Gotteskraft iſt und gibt, durch die völlige Veränderung der Zeit und Lebens­verhältniſſe ihm längſt abhanden gekommen iſt, und daß die leere Uebung eines ſolchen leeren Gebrauches ein leeres, ja unwürdiges, weil ein todtes Werk ſei: ſo ſoll er dennoch, wahr oder nicht wahr, etwas was einer religiöſen Idee ähn­lich ſieht, hineinzulegen ſuchen, um ihn nur beiem Volke in ſeiner alten Heiligkeit zu erhalten. Und wenn wiederum der Rabbine weiß, daß einer Ceremonie, die auch noch heute einen religiöſen Gedanken ausſpricht, eben durch die⸗Art und Weiſe, wie ſie vorſchriftsmäßig geübt wird, der religiöſe Inhalt verloren gegangen, und daß dieſer religibſe Gehalt nur durch eine andere entſprechende Uebungsform gerettet werden kann; ſo ſoll er deſſen ungeachtet ſeine Ueberzeugung in ſich nieder­kämpfen und das Volk belehren: es müſſe dieſe und jene Ceremonie ſo und ſo, und nicht anders als in der herkömm­lichen Form und Weiſe ausgeübt werden, ſonſt müßte die Religion ſchlechterdings untergehen. Und wenn gar der geiſtliche Führer die Lehre der alten Nabbinen kennt: man brauche mit der Ausübung der vorgeſchriebenen Gebräuche gar keine innere Abſicht zu verbinden und könne ſie in völliger Gedankenloſigkeit gottgefällig ausüben), ſo ſoll er nichtsdeſto­weniger das unendliche Reich der Natur und der Wiſſenſchaften ausbeuten, um zu beweiſen, wie von der geſinnungsloſen Ausübung dieſes und jenes Gebrauches das Beſtehen der Welt abhänge. Wahrlich, wenn man dieſe und ähnliche Zumuthungen in ihrer ganzen und vollen Bedeutung erwägt, iſt es nicht zu verwundern, wie dem Einen oder dem Andern in gerechter Entrüſtung die harten Worte Moſes entfahren: Wie, aus dieſem Felſen ſollen wir euch Lebenswaſſer hervor­ſprudeln laſſen?.

Aber dieſe Entrüſtung, fo gerecht fie auch fein mag, muß der geiſtliche Hirte in feiner Bruſt niederkämpfen und liebevoll und wohlwollend das Volk über ſeine Irrthümer aufklären. Aus dem Felſen entſpringt allerdings der Quell. So hat es Gott in der Natur und auch im Geiſterleben eingerichtet. Um den geiſtigen und ſittlichen Kern des Judenthums hat ſich im Laufe ſo vieler Jahrhunderte eine felſige Rinde gelagert, die deſſen Wirkſamkeit nach Innen und nach Außen gehemmt, deſſen Ausſtrömungen in das geſchichtliche Leben der Menſchheit

1) Roſch Haſchanah 28 z.

e AANER ENENE