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Der glaubensvolle Muth des israelitischen Volkshirten dem Murren seiner Gemeinde gegenüber : Predigt, gehalten in der Synagoge zu Schwerin am 29. Juni 1844 / dem Druck übergeben von Samuel Holdheim
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verhindert. Was aus den verſchiedenen Epochen der geſchicht­lichen Entwickelung des menſchlichen Geiſtes im Allgemeinen an den geiſtigen Kern des Judenthums ſich legte, konnte aus Mangel an freier Bewegung nicht in naturgemäßer Geſtaltung mit ihm ſich entfalten und ſetzte ſich als verſteinerte Gebilde an ſeine Oberfläche. Es erſcheint das Judenthum zur felſigen Maſſe verhärtet, aber doch nicht ſo ſehr, daß es nicht wieder

erweicht und flüſſig gemacht werden könnte. Beharrlichkeit

und Ausdauer vermögen gar viel. Der Waſſertropfen durch­bohrt den Felſen. Nur die Wahrheit und die ganze Wahrheit muß unabweislich gelehrt werden. Das Licht der israelitiſchen Gokteslehre durchleuchtet und die Liebe, die dieſe Lehre predigt, durchglüht und ſchmilzt die ſteinerne Rinde. Es iſt zunächſt Sache der geiſtlichen Führer, jenes urſprüngliche Licht des Judenthums immer mehr und mehr leuchten zu laſſen und

jene heilige Liebe im Herzen ſeiner Bekenner zu entzünden.

Die erſten Sonnenſtrahlen verurſachen dem lichtentwöhnten| Auge allerdings ſchmerzliche Empfindung, aber es wird dennoch das Licht liebgewinnen und mit der Finſterniß nicht vertauſchen mögen. Sf nur mit dem Lichte der Wahrheit das Feuer der Liebe gepaart, mit dem ſtrengen Ernſt der Wiſſenſchaft Milde und Wohlwollen des Herzens verbunden, ſo werden ſie mit dem Frieden alsbald ſich vermählen. Nur den Muth der Ueberzeugung nicht verlieren, nur der Wahrheit nicht untreu werden, nur der Liebe nicht entſagen, und aus dem Felſen wird der Lebensquell entſpringen und zum Strome ſich aus­breiten, auf dem wir ruhig und ſicher in den Hafen des Friedens gelangen werden...; Von der andern Seite werden nicht minder ſchwer zu befriedigende Anforderungen an der Volkslehre in Israel geſtellt. Denen geht alles zu langſam und der Zug nach dem Lande der Verheißung bewegt ſich ſchwerfällig in dem aus­getretenen Geleiſe der Halbheit und Mittelmäßigkeit.

Was kümmern uns, heißt es da, die Zurückgebliebenen? die

ereilen uns doch nicht. Und wollten wir auf dieſe warten, ſo kämen wir nie in das gelobte Land. Laſſet uns raſcher und lebendiger vorwärts ſchreiten. Die Halbheit iſt eine ſchwere Verſündigung an dem Geiſte der Zeit. Ganz wollen wir dem Fortſchritte huldigen. Was nützt es uns, daß unſere Kinder das gelobte Land ſehen werden, während wir, die Männer und die Frauen, in der Wüſte umkommen müſſen? Wir ſelbſt wollen es erleben und mit unſetn eignen Augen ſchauen, wie der Herr ſeinem Volke geholfen und es aus dem dürren Boden der Wüſte eingeführt in die wonnigen Gefilde, wo Ströme von Milch und Honig fließen. Was nützt uns