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Der glaubensvolle Muth des israelitischen Volkshirten dem Murren seiner Gemeinde gegenüber : Predigt, gehalten in der Synagoge zu Schwerin am 29. Juni 1844 / dem Druck übergeben von Samuel Holdheim
Entstehung
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ein Rabbiner, der ängſtlich nach allen Seiten ſich umblickt, ob

nicht ein einziges Schaf von der Heerde ſich verloren, und uns, ö die ganze Heerde, in unſerem raſchen Vorwärtsſtreben aufhält? Nein, das iſt kein Mann der Zeit, kein Mann der Wahrheit! Auch wir durſten nach friſchem und lebendigem Waſſer, und wollen nicht länger unſern Durſt ungeſtillt laſſen. Beſſer wäre es, dieſer Durſt wäre in uns gar nicht rege geworden; beſſer, wir wären über unſere Krankheit in Unwiſſenheit geblieben und hätten die Sehnſucht nicht kennen gelernt, die uns nach dem Ziele der Geneſung hintreibt. Aber das Ziel uns zeigen und uns dennoch nicht dahin führen, den gefüllten Becher uns vor den Mund halten und dennoch uns vor Durſt verſchmachten laſſen, nein, dieſen. können wir nicht

länger ertragen.

Wahrlich, auch hier wäre es kein Wunder, wenn dem geiſtlichen Hirten die Worte Moſes entführen: Sollen wir aus dem Felſen euch Waſſer hervorbringen? Unſere religiöſen Zuſtände, die beinah zwei Jahrtauſende zu einem Felſen ſich verhärtet, ſollen ſte in einem Jahrzehnt in ſanfte Bäche ſich verwandeln? In der geiſtigen Eekenntniß der Religion, da ſchwindet ein Irrthum, und habe er Jahrtauſende den menſch­lichen Geiſt umnachtet, in einem Augenblick aus dem Gedanken­kreis der Menſchen, wenn er vom Lichte der Wahrheit beleuchtet wird. Und redet ihr von der Lehre, von der Wiſſenſchaft, da habt ihr vollkommen Recht, daß die Wahrheit ganz und ent­ſchieden geſagt, gelehrt und geltend gemacht werden müſſe und daß jede Halbheit und Mittelmäßigkeit ein Treubruch an dem Geiſte der Wahrheit ſei. Aber ein anderes iſt es, einen Irrthum wiſſenſchaftlich bekämpfen, ihn auf allen ſeinen dunkeln

; Gängen mit der Fackel der Wiſſenſchaft beleuchten, und wieder ein anderes iſt es, den Irrthum aus dem Leben, in welchem er ſich Jahrhunderte geſchichtlich ausgebildet und mit allen tief in daſſelbe eingreifenden. verſchmolzen hat, mit einem Male zu entfernen. Was in dem Leben eine feſte Geſtaltung gewonnen, kann nur allmählig feiner Umwandlung

Lentgegengehen. Die Zeit hat in raſchen Pulsſchl ägen ſchon ſo

manchen Irrthum überwunden, und ſie wird in noch lebendigern

Schwingungen auch noch andere Irrthümer bekämpfen.

Und was hülfe es, wenn nur eine kleine Schaar von Aus)

erwählten auf der Höhe der Zeit ſtehend, von der Geſammtheit| ſich trennend für ſich allein das erwünſchte Ziel erreichte?

Wie, tragen wir nicht alle in unſerer Bruſt die Liebe, die

feurige, unauslöſchliche Liebe zu une Brüdern und Schweſtern,

daß wir ſie mit ihren Kindern in der Wüſte allein zurücklaſſen Y

ſollten? dab wir nicht mit ihnen Jahrtauſende lang alle.

/ AN EN