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„Wenn ich nun sicher wüßte oder vermuthete, wer unsere Kleider hat, dürfte ich dann nicht nach dem Gesetz der Thora dort einmal eine Untersuchung vornehmen lassen?" fragte nach einer kurzen Pause die Rabbinerin, indem sie dabei die Augen zu Boden senkte, weil sie einen vorwurfsvollen Blick ihres Gatten fürchtete, dem sie sich an Adel der Gesinnung so wenig ebenbürtig dünkte.
„Nach dem Recht der Thora allerdings. Aber wir sollen nie auf dem strengen Recht verharren. Wir müssen gegen unsere Mitmenschen so handeln, wie wir möchten, daß Gott mit uns verfährt. Wie könnten wir auch nur kurze Zeit bestehen, wenn Gott an unser Thun und Lassen den Maßstab des unerbittlichen Rechts legen wollte! Wie könnten wir Gottes Gnade für unsere Fehler und Schwächen anrufen, wenn wir an die Fehler unserer Mitmenschen nur das unerbittliche Maß des strengen Rechts legen wollten! Ist Dir nicht der Ausspruch der Weisen bekannt, daß, wer nicht auf seinem strengen Recht besteht, von Gott die Verzeihung aller Sünden erhoffen darf?"
„Gewiß kenne ich diesen Ausspruch," entgegnete die Rabbinerin. „Er ist von Raba und findet sich im Talmud Rosch haschono, Seite 17."
Proßnitzer, der Zeuge dieser ganzen Unterredung gewesen war, entfuhr unwillkürlich einen Ruf des Erstaunens über die für eine Frau so seltene Belesenheit im Talmud. Die Rabbinerin, die in ihrer Erregung die Anwesenheit des jungen Mannes vollständig übersehen hatte, sagte zu ihrem Manne, so daß es Proßnitzer aber ganz gut hören konnte:
„Sage dem Bochur, wenn ich nachher fort bin, daß ich, wie es einer jüdischen Frau zukommt, niemals in eine Gemoro