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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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Rabbi Jesaja schloß den Schrank und ging erregt in seinem Zimmer auf und ab. Er hatte jetzt den Abdruck der Hand, die sein Eigenthum angetastet hatte. Das war ein wichtiger Punkt zur Entdeckung des Thäters. Aber er wußte nicht, ob nicht füglich alle Abdrücke von Händen gleich, oder doch von zu geringer Verschiedenheit sind, um daraus einen Schluß zu ziehen. Er ging zum dritten Male über den Schrank, stellte sich auf den Stuhl und faßte das noch unbe­rührte höchste Brett ganz so an, daß seine vier Finger sich in dem Staub ausprägten, nahm dann vorsichtig das Brett herunter, um die beiden Abdrücke zu vergleichen. Aber da er das zweite Brett nicht von der Stelle bewegen wollte, so war der Vergleich bei dem trüben Kerzenlichte unmöglich.

Rabbi Jesaja verfiel auf einen anderen Gedanken. Be­hutsam legte er das Brett auf einen abseits stehenden Stuhl, und nahm aus der Mischna den Traktat Mikwaoth vor. Er vertiefte sich in die Maßbestimmungen, nach welchen das für ein rituelles Bad erforderliche Wasserquantum festzustellen ist. Wer jetzt den Forscher in seinem Studium gesehen hätte, mußte glauben, daß ihn keine andere Angelegenheit auf der Erde beschäftige. Er hatte in der That die ganze Welt ver­gessen und lebte nur dem Gegenstände, der ihn augenblicklich in Anspruch nahm. Und doch hatte er diesmal dieses Thema nur deshalb herausgegriffen, um für seine Forschung nach der in der Ecke liegenden Handspur, keine auch noch so gering­fügige Unwahrheit sagen zu müssen, wie sich das sofort herausstellte.

Kurz vor vier Uhr in der Frühe stellte sich Proßnitzer mit vier anderen jungen Leuten zum Morgen-Schiur bei ihrem Hehrer ein. Sie hatten ihre Talmud-Traktate mitgebracht