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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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Wunderbar, wunderbar," sprach Rabbi Jesaja für sich hin,das ist wiederum der 61. Psalm und zwar der 6. Vers; wunderbar!"

Nachdenklich starrte Rabbi Jesaja auf das Stückchen Papier und kam mit seiner scharfen Combinationsgabe zu fol­gendem Resultat, das er sich selber in halblaut geführtem Selbstgespräch Punkt für Punkt in folgender Weise resumirte:

Erstens: Der Zettel war zur Zeit des Diebstahls noch nicht in dem Schlüssel, sonst hätte ich schon damals das Hinder­niß beim Gebrauch des Schlüssels bemerkt, wie ich es heute be­achtet habe. Er ist erst hineingekommen, als der Schlüssel in der Tischschublade lag. Er muß also von Jemanden herrühren, der ungemein vertraut im Hause ist.

Zweitens: Der Dieb, der den Zettel hineingelegt und ihn jedenfalls an mich gerichtet hat, ist ein bibelkundiger Mann. Er ist aber auch ein Kenner des rabbinischen Gesetzes, den er hat in scharfsinniger Weise den Normen entsprochen, die im Schulchan Aruch Choschen Hamischpat Cap. 366 für den Fall vorgeseken sind, daß ein Dieb den gestohlenen Gegenstand seinen Eigenthllmern ohne deren Wissen zurückgiebt.

Drittens: Mit dem von ihm gewählten Psalmwort wollte er mir sagen, daß er einer solchen That nicht gegen einen an­deren fähig sei, daß er nur gegen mich allein sie begangen habe, weil er sicher auf meine Nachsicht rechnet und er hofft, daß ich in Erwägung der Umstände, die ihn dazu gedrängt, seine Hand­lungsweise rechtfertige und ihn frei sprechen werde.

Bei den letztgesprochenen Worten traten Rabbi Jesaja die Thränen in die Augen. Wer fühlte wärmer und theilnehmen- der die drückende Armuth und bittere Noth so vieler Talmide Cchachamim in seiner Gemeinde, als er! Bewegt rief er mit