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„Schenkt mir nur noch eine einzige Viertelstunde. Gestattet, daß ich noch vor dem Tode meine Sünden vor Gott bekenne und noch ein einziges Mal bete, dann werde ich ohne Widerrede mich Eurem Todesurtheil unterziehen. Thut es um der Liebe und Achtung willen, die-"
„Laßt das Geschwätz! Ich gewähre Euch noch eine Frist nicht nur von einer Viertel, sondern sogar von einer halben Stunde. Seht auf die Sanduhr, wenn sie abgelaufen ist, bin ich wieder da und dann ist Euere Lebensuhr auch abgelaufen. Benützt aber die kostbaren Minuten nicht zu eitlen Fluchtversuchen. Ihr seid hier lebendig begraben, selbst wenn ich nicht käme und Euch diesen Dolch in die Brust stieße. Aber ich werde kommen und es wird keine Minute längere Frist gewährt."
Mit diesen Worten näherte er sich rasch der eisernen Thüre ohne Schloß und Riegel, öffnete sie geräuschlos durch einen geheimen Mechanismus; geräuschlos schloß sich die Thüre und Rabbi Jesaja war allein.
Rabbi Jesaja brach buchstäblich zusammen unter der Wucht der Erlebnisse, die in den letzten Minuten aus ihn eingestürmt waren. Der Athem stockte, die Pulse hämmerten, das Herz zitterte bei der bloßen Vergegenwärtigung dessen, was er soeben erlebt hatte und was ihm in wenigen Minuten bevorstand. War Alles nur eine Täuschung? Ein schwerer Alp, ein drückender Traum, wie er deren so oft in den letzten Jahren gehabt hatte? Er preßte die Hände an die pochenden Schläfen, als wolle er das schwindende Bewußtsein zurückhalten und verfiel in ein minutenlanges tiefes Nachsinnen, das durch nichts, als durch das leise Geräusch des aus der Sand-Uhr herabrinnenden Sandes unterbrochen wurde.