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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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So hatte sich Rabbi Jesaja sein Zusammentreffen mit Wolf Proßnitzer nicht vorgestellt. Er konnte nicht umhin, sich zu gestehen, daß ihn seine Menschenkenntniß, auf die er so fest vertraute, bei der Beurtheilung Proßnitzers doch getäuscht habe. Daß er ihn persönlich nicht wieder erkannt hätte, wäh­rend Proßnitzer ihn sofort erkannte, hatte für Rabbi Jesaja nichts auffälliges. Dasselbe war ja aus demselben Grunde bei Joseph und seinen Brüdern der Fall. Proßnitzers Gesicht war noch bartlos, als er Frankfurt verließ, während Rabbi Jesaja dieses Gepräge des M.annesalters damals wie jetzt be­saß. Aber daß er sich so über den eigentlichen, inneren Menschen, über Charakter und Gesinnung Proßnitzers so voll­ständig täuschen konnte, dünkte ihm fast unmöglich. Und doch war die augenscheinliche Unmöglichkeit traurige, unleugbare Wirtlichkeit! Wie hatte dieser Mensch noch die ganzen, jüngsten sieben Tage die Rolle des gastlichen, leutseligen und liebens­würdigen Wirthes gespielt, und nun plötzlich seine wahre Ge­stalt gezeigt! Auch die Gemeinde mit ihren Gelehrten und Weisen hatte sich von diesem Menschen täuschen laßen, der nicht davor zurückschreckt, sein Lehrer aus niedriger Rachsucht nieder­zustechen! Ein Mörder, Vorsteher der Gemeinde von Jaffa! Das war Rabbi Jesaja das unerträglichste, daß sein Hin­scheiden von dieser Welt einen Menschen mit der schweren Sünde des Mordes belasten solle. Den Tod an und für sich hätte er nicht gefürchtet, er war stündlich auf ihn vorbereitet. Er hatte ja deshalb das heilige Land aufgesucht, um in seiner Erde begraben zu werden. Daß er dieses Ziel erreicht hatte, dankte er zuallernächst dem himmlischen Vater aus der ganzen Tiefe seines Herzens. Freilich wollte der Mörder den Leichnam in die See werfen, um jede Spur seiner Unthat zu verwischen;

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