Druckschrift 
Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
Seite
139
Einzelbild herunterladen

der Friede sei mit ihm, keiner Unwahrheit fähig gewesen? wäre; Du kannst Dir denken, daß er es in seiner Todesstunde noch weniger war, und daß ich mich an seinem Andenken ver­sündigen würde, wollte ich für seine Redlichkeit und Wahr­haftigkeit erst Zeugniß ablegen. Obwohl schon dreißig Jahre seitdem verflossen sind, ist mir keines seiner Worte verloren gegangen, und ich erzähle Dir die ganze Geschichte mit seinem eigenen Worten wieder."

Es war kurz vor Peßach im zehnten Jahre unserer Ver- heirathung; ein hartes, theures Jahr. Wir wohnten damals noch in der Entengasse, in einem kleinen, baufälligen Häuschen, an dessen Hinterseite ein großer, leerer Bauplatz stieß. Auf diesem Platze lagen Steine und Geröll in Hülle und Fülle und in der rechten Ecke stand ein großer Kirschbaum, der fast jedes- Jahr Kirschen trug, die uns gehörten. So schwer wie dieses Jahr war es noch nie gefallen, die Mittel für den Peßach zu­sammen zu bekommen. Mazzos, Wein, Kleider für Kinder, Alles war unerschwinglich theuer; und das Geschäft warf nichts ab. Aber mit Gottes Hilfe, der uns gute Leute schickte, konnte ich von verschiedenen Seiten so viel zusammenborgen, daß wir den Peßach bekowed feiern konnten. Als wir am ersten Seder-Abend zu Tische saßen, sah Niemand unserem Tisch an, daß wir die Mazzos und den Wein noch schuldig waren, die ihr Kinder euch so gut schmecken ließet. Ihr wart noch alle klein und ihr schlieft durch den ungewohnten Genuß des Weines frühzeitig ein. Euere Mutter und ich waren am Ende noch allein wach, und als ich zum Schluß der Sederfeier mein Chumesch in die Hand nehme, Schir Haschirim zu sagen, rang sich ein schwerer Seufzer aus der Brust euerer Mutter,, die euch das Alles bestätigen kann. Ich blicke erschreckt zu ihr.