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uns in den sechs Monaten noch nicht vorgekommen, in welchem wir hier wohnen."
„Sechs Monate seid Ihr schon in Men und ich weiß nichts davon? Daß mir das meine selige Mutter nicht geschrieben hat, für sie sage ich Kaddisch, sie ist vor vierzehn Tagen gestorben."
„Boruch Dajan Emmes!" ries Jankel bestürzt. „Ich habe Dich nicht fragen wollen, warum Du Kaddisch sagst;, aber mir hat natürlich nichts Gutes geahnt."
Feiwel sah betroffen zu Boden. Wäre es nicht Nacht gewesen, so hätte es Jankel nicht entgehen können, wie sein Begleiter über und über roth vor Scham und Schmerz wurde., Feiwel war ein echtes Wiener Weltkind geworden. Die drei Jahre seines Wiener Aufenthaltes hatten genügt, um die jüdische Erziehung vollständig abzuwersen, die ihm Vater und Mutter mit so viel Hingebung neunzehn Jahre lang angedeihen ließen. Aber an der Bahre der Mutter hatte er sich's gelobt, das Trauerjahr für sie wenigstens gewissenhaft zu halten. Er hatte sich einen neuen Tallis und neue Teffillin gekauft und besuchte seitdem früh und spät das Gotteshaus, um für das Seelenheil seiner Mutter Kaddisch zu sagen. Als er heute so unerwartet Jankel traf, trat mit ihm seine ganze Jugend vor die Seele. Als ihn gar Jankel Mit seinem alten, echten jüdischen Namen Feiwel anredete, den er schon sofort nach seinen Ankunft in Wien gegen Ferdinand vertauscht hatte, da ging ihm eine Ahnung von der Feigheit auf, die der Namenswechsel bedeutete, daß er vor Scham an der Seite dieses schlichten, ungebildeten Mannes in den Boden hätte sinken mögen.
Aber es war nicht viel Zeit diesen Gefühlen nachzuhängen, denn schon hatte er mit Jankel dessen Wohnung erreicht