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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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treiben, da keiner der zahlreichen Frankfurter Fuhrwerksbesitzer eine solche Reise bei Nacht wagen wollte. Der Schnee lag niimlich drei bis vier Fuß hoch und die Kälte war grimmig. Mein Lehrer war damals ein alter, schwacher Mann und konnte auf offenem Schlitten die Reise nicht wagen. Mit einem Wagen aber mußte man riskiren, mitten in der Nacht im Schnee stecken zu bleiben. Alle Freunde und Bekannte riethen daher von der Reise ab und drangen in den Greis, dieselbe doch bis zum Tage zu verschieben. Er aber Wies alle diese Rathschläge mit der Bemerkung ab, daß man die Erfüllung einer Mizwa, die sich ihm so unerwartet biete, nicht hinausschieben dürfe, und daß er mit jeder Minute, die er unnöthitz,erweise verstreichen lasse, das Verbot übertrete:Du sollst nicht stille stehen beim Blute Deines Bruders." Er schickte mich noch einmal nach einer Kutsche und beauftragte mich, jeden Preis dafür zu versprechen, nur sollte ich nicht ohne Wagen zurückkommen. Das hals. In einer kleinen Stunde war ich mit einem Wagen und zwei starken Pferden da, und nun ging's fort in die Nacht und in den Schnee hinein. Es war selbstverständlich, daß ich meinen Lehrer begleitete. Bei solchen Gelegenheiten hatte ich die beste Veranlassung, die schier unglaubliche geistige Größe meines Lehrers anzustaunen. Wir lernten zusammen ohne Licht und ohne Buch. Mein Lehrer hatte nicht nur den ganzen Talmud, sondern alle Kommentare wörtlich im Gedächtniß und trug sie im Dunkeln vor, als lese er den Wortlaut vom Blatte ab. So merkten wir gar nicht, was draußen vorging, bis etwa nach drei- bis vierstündiger Fahrt der Wägen plötzlich hielt. Der Kutscher war vom Bock gestiegen, hatte den Kutschenschlag ge­öffnet und bemerkte ganz lakonisch:

Ich muß den Herren mittheilen, daß wir nicht weiter