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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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nach eigenem Ermessen zu verfügen? Ich könnte dieses sein Recht aus dem Talmud Nachweisen, wo es im letzten Perek von Kesuboth ausdrücklich ausgesprochen ist, daß Jedermann befugt ist, zu sagen: Deinem Bruder will ich es geben, aber Dir will ich es nicht geben. Aber unser Recht ist in dieser Sache so selbstverständlich, daß ich auf jedes weitere Wort verzichten kann."

Da haben wir es," bemerkten darauf die Kläger, unser Afsocis verfährt eingestandenermaßen ganz willkürlich mit uns. Den Anderen giebt er's mit vollen Händen, und uns will er's entziehen."

Ihr redet kindisch," entgegnete der Rabbiner,und Ihr nöthigt mich, zu Euch wie mit Kindern zu reden. Der An­walt Eures Gegners hat sich in ganz correkter Weise auf den Rechtsstattdpunkt gestellt. Nach den einfachsten Begriffen von Recht und Unrecht kann ihn Niemand anhalten, Eurer grund­losen Forderung nachzukommen. Das schließt aber nicht aus, daß er noch außerdem seine guten Gründe haben kann, Euch wenig und Anderen mehr zu geben, und man braucht ja nicht weit nach alledem, was Ihr selber eingeräumt habt, nach solchen Gründen zu suchen. Hat ein Vater z. B. nicht das Recht, einem Kinde ein größeres und dem anderen Kinde ein kleineres Stück Brod zu geben? Einfältige Kinder werden über Be­vorzugung und Zurücksetzung deshalb klagen. Aber daß die Ursache dieser ungleichen Vertheilung ganz andere sein können, das wird auch ein halbwegs verständiges Kind einsehen. Das Kind, welches den ganzen Vormittag in der Schule ist, muß ein größeres Stück Brod haben, weil es in der Zwischenzeit nichts haben kann. Dem Kinde, das zu Hanse ist, genügt für den Augenblick ein kleineres Stück, weil es jeden Augenblick