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Vierzehn Tage und Nächte lang hatte sie mit diesem Gedanken gerungen, ohne zu einem Entschluß kommen zu können. Wohl hatte sie unbedingtes Vertrauen zu ihrem Rabbiner, zu seiner Weisheit und Vertrauenswürdigkeit; aber gerade deß- halb fiel ihr der Schritt so schwer. Sie wußte, welch' gute Meinung der Rabbiner jederzeit von ihrem Manne hatte, sollte sie, die eigene Frau, selber diese gute Meinung zerstören? Aber zu diesem schweren Schritt mußte sie sich entschließen, durfte sie sich entschließen, da ihr Mann es ja selber so wollte.
Rachel Jessel war nicht nur ein frommes, gutes Biederweib, sie hatte auch einen Hellen Geistesblick und einen scharfen praktischen Verstand, der auch die verwickeltste Lage leicht und sicher übersah. Sie wollte dem Rabbiner alles getreulich erzählen und dann von ihm einen Din Thora (die religionsgesetzliche Entscheidung) erbitten, ob sie vor Gott verpflichtet sei, das Geld zurückzugeben, wenn selbst ihr Mann dadurch zu jahrelangem GefängNiß verurtheilt wird, oder ob die Rücksicht auf ihren schwächlichen Mann, auf ihren und ihrer Kinder Ernährer, höher stehe, als die Pflichten der Redlichkeit und Ehrlichkeit. Das Werthpaquet wollte sie jedenfalls dem Rabbiner einhändigen, es duldete sie nicht länger, mit ihm in einem und demselben Raume zu sein.
Dann aber kamen ihr wieder Bedenken, ob sie auf diesem Wege der Sache nicht schade, die sie doch bessern wollte. Wenn der Rabbiner das Paquet der Post zurückgibt, so muß er selbstredend sagen, von wem er es bekommen hat. Wäre es für ihn nicht leichter, wenn er das Paquet erhielte, ohne selbst zu wissen, von wem, damit er mit gutem Gewissen sagen und eventuell beschwören könne, er wisse nicht, woher er das Paquet habe?
Das leuchtete ihr ein. Am Morgen des fünfzehnten