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Eine ungekannte Welt : Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben / von Judäus
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don zwischen ihm und seinen leichtlebigen Alters- und Ge­schäftsgenoffen. Als diese Schranke aber gefallen war, wurden die bisherigen Spötter seine Freunde und damit sein Ver­derben. Sie lehrten ihn das Leben in ihrer unlauteren, ge­meinen Weise genießen und ließen ihn Theil nehmen an ihren Ausschweifungen und ihrem ganzen lüderlichen Lebenswandel. Sein glänzender Blick verglaste, seine rothen Wangen fielen ein, seine Lebensheiterkeit wurde durch eine brütende, düstere Schwermuth verdrängt. Statt der bisherigen Freude an seinem Berufe machte sich Unlust, Widerwille und Unpünkt­lichkeit im Geschäft mehr und mehr bemerkbar. Während er sonst mit flinker Hurtigkeit sich aus den Armen des Morgen- schlofes riß, sein Morgengebet verrichtete und als der Erste im Geschäft zur Stelle war, konnte er jetzt nicht lange genug schlafen. Es kam nach halbdurchzechten Nächten oft vor, daß er morgens eine viertel Stunde vor Beginn der Geschäftszeit noch in den Federn steckte. Er konnte ohne Preisgabe des Morgengebetes, der Tefillin und Zizis, nicht pünktlich zur Stelle sein; er gab sie Preis. Als er ein Jahr später auf die Reise geschickt wurde, kostete ihn die Verletzung der Speise­gesetze längst keine Ueberwindung mehr. Wie ihm das alles mit so beängstigender Deutlichkeit vor der von Schmerz und Scham zerwühlten Seele stand!

Er sah die Stadt, das Gasthaus, den lang gedeckten weißen Tisch, an dem er am ersten Tage seiner Reise sich am einen Ende der Tafel Fische und Kartoffeln besonders ser­vilen ließ. So richtig offiziell trephah zu essen, das hatte er noch nicht über sich gebracht, er war noch ein schüchterner An­fänger in diesem Fach. Da kam ein alter Reiseonkel, der Ver­treter eines Concurrenzgeschäftes, in den Saal, und auf die