1. (1. außerordentliche) Versammlung des XV. Vereinsjahres.
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jemand mit seinen Figuren und alten Versehen abgeschrieben, unter die res deperditas zu zählen“.
Gerade dieser Absicht einer früheren Zeit, den damals wohl schon beschädigten Totentanz ganz zu vernichten, verdankt dieser seine Erhaltung. Die durch neuen Überstrich stetig verstärkte Kalkschicht, die ihn zerstören sollte, legte sich wie eine Schutzdecke über ihn. Als 1860 entdeckt wurde, daß bemalter Stuck sich unter der weißen Kalkschicht befinde, gelang es, diese vorsichtig loszulüsen und den alten Totentanz dem Tageslichte wiederzugeben. Das in Berlin, welches an fremden Altertümern reich, an eigenen ärmer als manche kleine Stadt ist, durch eine glückliche Fügung entdeckte Denkmal war man bestrebt, vor künftigem Untergange za retten. Die Behörde bewilligte die Mittel, durch Auffrischung und Übermalung von Künstlerhand die alten Figuren und Buchstaben in neuer Farbenfrische wieder hervortreten zu lassen und durch behutsame Ergänzungen einige zerstörte Teile in den Figuren wieder zu ersetzen. Auf die Ergänzung der fehlenden Verse mußte man notgedrungen verzichten. Die Lücken, welche Sie innerhalb des Textes sehen, zeigen, daß eine nicht kleine Anzahl Zeilen und Worte dem zerstörenden Zahne der Zeit zum Opfer gefallen ist.
Ehe ich auf die Erläuterung von Bild und Schrift eingehe, möchte ich Ihnen in aller Kürze einen schnellen Überblick über die Geschichte der mittelalterlichen Totentänze und ihre verschiedenen Gestaltungen geben.
Die Kirche hat sich stets angelegen sein lassen, dem Menschen die Nichtigkeit des irdischen Daseins vor Augen zu führen und in Hinblick auf das unerbittlich einmal kommende letzte Ständlein warnend zu mahnen, sich zeitig durch gute Werke, d. h. besonders Spenden zu frommen Zwecken, zur Reise in das andere Land, in das Jenseits, zu rüsten. Dieser Tendenz verdanken die Totentänze ihre Entstehung und ihren Gedankeninhalt. Sie sind ihrem Wesen nach allegorische Darstellungen. Die mumienhaften Gestalten, welche Sie sehen, stellen nicht Tote dar, sondern die Personifikation des Todes, welcher die Menschen vom Höchsten bis zum Niedrigsten, vom Papste bis zum Küster, vom Kaiser bis zum Narren und Kinde zu seinem Tanze, d. h. zum Gange ins Grab abholt.
Das Ursprungsland der Totentänze ist Nordfrankreich, die älteste Erwähnung aus d. J. 1376. Von Frankreich aus haben sich später die Totentänze über fast das ganze Abendland, besonders aber außer Frankreich in Deutschland, in der Schweiz und in Norditalien verbreitet. Von den ungezählten Hunderten, welche es einst gpgeben haben mag, ist heute nur eine kleine Anzahl noch erhalten.
Die meisten alten Totentänze waren monumentale Gemälde, welche die Mauern der Kirchen und Leichenhäuser friesartig umzogen. Eine