Heft 
(1907) 15
Seite
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8. (8. ordentliche) Versammlung des XV. Vereinsjahres.

nicht sagen, daß nicht doch die Uranfänge des Vormenschen bis in den oligocänen Abschnitt des Tertiärs zurückreichen mögen.

Verworns Forschungsreisen im Sept. 1905 sind auch sonst sehr ausgebend gewesen. In den obermiocänen oder unterpliocänen Tertiär­ablagerungen bei Aurillac (Dep. Cantal) hat er systematisch bearbeitete Feuersteine in größerer Zahl aus der betr. Schicht ausgegraben von relativer Höhe der archaeolithisclien Kultur. Daß dergl. Stücke sich auch im Palaeolithikum des Quartiär vorfinden, ist selbstverständlich, denn eine neue Kulturstufe verdrängt niemals die Formen der voraufgehenden vollständig. Das wird durch das Entwicklungsgesetz der Natur wie der Menschheit bedingt. Neben den raffiniertesten Schnellfeuergewehren wer­den noch heut Steinschloß-Flinten gebiaucht.

Bei Ote nahe Lissabon hat Verworn bearbeitete Steine wahrschein­lich dem Palaeolithikum angehörig entdeckt; für ihr tertiäres Alter gibt es bislang keinen Anhaltspunkt.

Es folgt dann ein fesselnder Bericht über die Höhlenfunde von Les Eyzies (Dep. Dordogne) mit Wandzeichnungen von Tieren und künstlerisch figürlich geschnitzten Stücken, welche dem Diluvium ange­hören. Verworn bestätigt das, was Prof. D. H. Klaatschin seiner Abhand­lungAnthrop. und palaeolithische Ergebnisse einer Studienreise durch Deutschland, Belgien und Frankreich (Bd. 35 ders. Zeitschrift i. J. 1903) veröffentlicht hat. Eine Tatsache ist sehr bemerkenswert: Es findet sich keine Andeutung einer konventionell stilisierenden Kunst unter den gesamten Tierbildern. Das ist ein fundamentaler Gegensatz gegenüber der prähistoiischen Kunst aller folgenden Kulturstufen. Nach meiner Empfindung spricht dies für eine besondere, individuelle, künsterische Empfindung der Steinzeitmenschen, wie sie weder vorher noch nachher bemerkbar wird.

Ganz richtig folgert Verworn daher:je mehr bei einem Volke die religiösen Ideen das gesamte Kulturleben durchdringen und beherrschen, ixmsomehr hat seine Kunst einen konventionell stilisierenden Charakter, je weniger dasjder Fall ist, umsomehr erscheint die Kunst naturalististisch. Ich möchte das als das Grundgesetz der Kunstentwicklung bezeichnen und dementsprechend zwei extreme Kunsttypen unterscheiden, die physioplastische Kunst, welche die Dinge bildet wie die Natur sie dem Auge zeigt, und die ideoplastisclie, die nicht die natürlichen Dinge, sondern selbstgebildete Vorstellungen, Ideen von denselben dar­stellt. Unter diesen Gesichtspunkt ist die prähistorische Kunst zu beurteilen. Und in der Tat stehen alle Ergebnisse der Urgeschichts­forschung in voller Harmonie damit. Die religiösen Ideen sind immer diejenigen, die bei den Naturvölkern in erster Linie als maßgebendes Moment für die Entwickelung des ideoplastischen Kunsttypus in Be­tracht kommen. Die ganze Kultur der palaeolithischen Periode zeigt